Mister Mayhew öffnete das Notizbuch, und Dodger äugte argwöhnisch darauf. Der Bleistift wartete über dem Papier, bereit, Worte festzuhalten, und deshalb sagte er: »Nichts für ungut, aber ich werde ganz hibbelig, wenn Worte aufgeschrieben werden, und dann kann ich nicht mehr reden.« Sein Blick huschte bereits durchs Zimmer, auf der Suche nach einem anderen Ausgang.
Doch Mister Mayhew erstaunte ihn, indem er erwiderte: »Junger Mann, ich entschuldige mich dafür, dich nicht vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Weißt du, ich notiere mir von Berufs wegen das eine oder andere. Vielleicht sollte ich besser von einer Berufung sprechen. Es handelt sich um Recherchen in Hinsicht auf ein Projekt, mit dem ich mich schon seit einer ganzen Weile befasse. Meine Kollegen und ich hoffen, der Regierung die schrecklichen Zustände in London zu verdeutlichen. Es ist die reichste und mächtigste Stadt auf der Welt, doch für viele ihrer Bewohner herrschen Lebensbedingungen, die sich kaum von denen in Kalkutta unterscheiden.« Er bemerkte, dass Dodgers Gesichtsausdruck unverändert blieb, und fügte hinzu: »Ist es möglich, junger Mann, dass du nicht weißt, was es mit Kalkutta auf sich hat?«
Dodger starrte für einen Moment auf den Stift. Nun ja, es ließ sich nicht ändern. »Das stimmt, Sir«, antwortete er. »Ich habe keine Ahnung. Tut mir leid, Sir.«
»Mein lieber Dodger, es ist ganz und gar nicht deine Schuld.« Wie im Selbstgespräch fuhr Mister Mayhew fort: »Unkenntnis, schlechte Gesundheit, unzureichende Ernährung und Mangel an sauberem Trinkwasser sorgen dafür, dass die Situation immer schlimmer wird. Deshalb frage ich einfach nur einige Leute nach Einzelheiten aus ihrem Leben, auch nach ihrem Einkommen, denn die Regierung muss auf eine derartige Anhäufung von Beweisen reagieren. Seltsamerweise sind die Oberschichten im Allgemeinen sehr großzügig, sofern es Geldspenden für Kirchen, Stiftungen und andere gemeinnützige Einrichtungen betrifft, aber abgesehen davon richten sie allzu strenge Blicke nach unten, auch wenn sie gelegentlich Suppe für die Bedürftigen kochen.«
Bei dem Wort Suppe knurrte Dodger der Magen, und zwar offenbar so laut, dass Mister Mayhew es hörte, denn er wurde plötzlich aufgeregt und sagte: »Oh, mein lieber Dodger, du musst natürlich sehr hungrig sein! Ich habe damit gerechnet und werde diese Glocke hier läuten, damit dir das Dienstmädchen Schinken mit Eiern bringt. Wir sind nicht reich, aber glücklicherweise sind wir auch nicht arm. Ich sollte vielleicht darauf hinweisen, dass jeder einen anderen Maßstab für arm und reich hat. So begegnete ich Menschen, die ich zu den Ärmsten der Armen gezählt hätte, die jedoch behaupteten, ganz gut zurechtzukommen. Während ich andererseits Männer kennenlernte, die in vornehmen Häusern wohnen und über ein hohes Einkommen verfügen, sich jedoch nur einen Schritt vom Schuldturm entfernt wähnen.« Er lächelte, läutete die Glocke und sagte: »Wie ist es mit dir, Dodger? Du bist ein Tosher, wenn ich das richtig sehe, und offenbar wirst du auch in anderen Bereichen tätig, wenn sich Gelegenheit dazu ergibt. Hältst du dich für reich oder arm?«
Dodger erkannte eine Fangfrage auf Anhieb. Mister Mayhew, so glaubte er, sah die Welt vielleicht nicht mit der gleichen finsteren Schärfe wie Charlie, aber es wäre ein Fehler gewesen, ihn zu unterschätzen. Deshalb griff Dodger zum letzten Mittel, das Aufrichtigkeit hieß. »Ich schätze, Sol und ich sind nicht ganz arm, Sir. Wissen Sie, wir machen ein bisschen dies und ein bisschen das, und auf diese Weise schlagen wir uns recht gut durch, im Vergleich zu anderen.«
Das schien den Anforderungen zu genügen, denn Mister Mayhew nickte zufrieden. Er blickte in sein Notizbuch und sagte: »Sol ist der Herr jüdischen Glaubens, bei dem du wohnst, wie ich von Charlie hörte, ja?«
»Oh, er glaubt nicht nur, Jude zu sein, er ist es tatsächlich. Er wurde als Jude geboren, soweit ich weiß. Das hat er mir jedenfalls erzählt.«
Dodger fragte sich, warum Mister Mayhew lachte, und er fragte sich auch, woher Charlie wusste, wo und bei wem er wohnte, denn er erinnerte sich nicht, es ihm erzählt zu haben. Aber das spielte eigentlich keine Rolle, weil er das Dienstmädchen und auch das Klappern eines Tabletts auf der anderen Seite der Tür hörte. Es war ein Klappern, das auf ein schweres Tablett hinwies, was Dodger für ein gutes Zeichen hielt. Er irrte nicht, wie sich herausstellte. Mister Mayhew sagte, er habe bereits gefrühstückt, und so machte sich Dodger mit Heißhunger über Schinkenspeck mit Eiern her.
»Charlie setzt große Hoffnungen in dich, musst du wissen«, sagte Mister Mayhew. »Und ich gestehe meine Bewunderung für die Tatsache, dass du dich so sehr für unsere junge Dame eingesetzt hast, obwohl du ihr, wenn ich richtig informiert bin, nie zuvor begegnet bist. Ich bringe dich bald zu ihr. Offenbar versteht sie Englisch, aber ich fürchte, die schreckliche Tortur, die sie hinter sich hat, blieb nicht ohne Wirkung auf ihren Kopf, denn sie kann sich nicht an die dunklen Ereignisse erinnern, denen sie allem Anschein nach zum Opfer fiel.«
Dodger begutachtete das restliche Essen auf seinem Teller, ohne alles auf einmal zu verschlingen, was sehr ungewöhnlich war, und sagte: »Sie war sehr verängstigt. Mir scheint, sie ist mit einem Kerl verheiratet, der sie verdammt schlecht behandelt. Und …« Dodger wollte noch mehr sagen, zögerte aber. Er dachte: Sie ist verletzt, ja. Sie hat Angst, ja. Aber ich glaube nicht, dass Furcht und Schmerz ihre Erinnerungen ausgelöscht haben. Ich schätze, sie will nur Zeit gewinnen, bis sie herausgefunden hat, wer ihre Freunde sind. Und so schlecht es ihr auch gehen mag … An ihrer Stelle täte ich so, als ginge es mir noch ein wenig schlechter – das ist die Regel der Straße. Man behalte das eine oder andere Geheimnis für sich.
Dodger fühlte noch immer den Blick des Mannes auf sich ruhen, und nur wenige Sekunden später sagte Mister Mayhew: »Wenn du also gestattest … Wo bist du geboren, Dodger?«
Er musste sich gedulden, bis Dodger den Teller endgültig geleert und das Messer an beiden Seiten abgeleckt hatte. Dann erwiderte Dodger: »In Bow, Sir. Aber sicher bin ich mir nicht.«
»Hättest du etwas dagegen, mir zu erzählen, wie du aufgewachsen und … zu einem Tosher geworden bist?«
Dodger hob die Schultern. »Zuerst war ich ein Schlammkriecher. Das fällt Kindern leicht, es liegt gewissermaßen in ihrer Natur. Sie wühlen im Schlamm am Fluss und suchen nach Kohlestücken und anderen Fundstücken. Im Sommer ist das nicht schlecht, im Winter allerdings kann’s richtig mies werden. Wenn man schlau ist, findet man einen Platz zum Schlafen und verdient sich was zu essen. Ich war eine Zeit lang Gehilfe eines Kaminkehrers, das habe ich Charlie schon gesagt, doch dann eines Tages begann ich mit dem Toshen und hab’s nie bereut, Sir. Passte zu mir wie eine Schlammkuhle zu einem Schwein, Sir. Und der Unterschied ist gar nicht mal so groß. Noch habe ich keinen Tosheroon gefunden, aber ich hoffe, einen zu entdecken, bevor ich sterbe.«
Er lachte und beschloss, dem sehr ernst wirkenden Mann etwas zum Nachdenken zu geben. »Natürlich habe ich praktisch alles andere gefunden, Sir, alles, was die Leute wegwerfen und verlieren oder worum sie sich nicht mehr scheren. Es ist erstaunlich, was man dort unten findet, insbesondere unter den Lehrkrankenhäusern, o ja, meine Güte! In der Kanalisation kann ich von einer Seite Londons zur anderen gehen und hochkommen, wo immer es mir gefällt, Sir, wirklich wunderbar. Manchmal ist mir so, als täte ich durch alte Häuser wandern: geschwungene Treppen, das Zeug, das an den Wänden wächst – die Grotte, die Windige Ecke, das Schlafzimmer der Königin, die Flüsterkammer und die anderen Plätze, die wir Tosher wie unsere Westentasche kennen, die wir gar nicht haben. Wenn der Fluss das Abendrot widerspiegelt, sieht es aus wie das Paradies, Sir. Ich erwarte nicht, dass Sie mir glauben, Sir, aber es ist die Wahrheit.«