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»Soll ich etwa glauben, Mister Dodger, dass du dieser jungen Dame wie der wahre Kavalier zu Hilfe geeilt bist, obwohl du sie gar nicht kennst?«

Dodger wirkte plötzlich sehr wachsam. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Welche Rolle spielt’s für euch? Und wer ist überhaupt dieser Kavalier?«

Charlie und Henry trugen die junge Frau in ihren Armen. Als sie losgingen, sagte Charlie über die Schulter hinweg: »Hast du nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe, Dodger? Mit Kavalier ist ein Mann mit vorbildlichen Manieren Damen gegenüber gemeint … Schon gut. Folge uns wie der klatschnasse edle Ritter, der du bist, und du wirst sehen, dass die holde Maid eine gute Behandlung erwartet. Bei der Gelegenheit bekommst du auch eine ordentliche Mahlzeit und … mal sehen …« Münzen klimperten in der Dunkelheit. »Ja, zwei Shillings, und wenn du mitkommst, verbesserst du deine Aussichten auf den Himmel, womit ich einen Ort meine, über den du vermutlich nicht allzu häufig nachdenkst, wenn ich das richtig sehe. Verstanden? Sind wir uns einig? Gut.«

Zwanzig Minuten später saß Dodger in der Küche des Hauses am Feuer. Es war kein allzu prächtiges Gebäude, aber doch viel prächtiger als die meisten Häuser, denen er einen rechtmäßigen Besuch abgestattet hatte. Weitaus prächtigere Häuser kannte er von unerlaubten Besuchen her, doch die waren nie von langer Dauer gewesen. In manchen Fällen hatte er sie in beträchtlicher Hast verlassen. Ehrlich, die Anzahl der Hunde, die die Leute heutzutage hatten, war ein verdammter Skandal, und sie hetzten sie ohne jede Vorwarnung auf ungebetene Gäste – aus diesem Grund war er immer recht flink gewesen. Aber hier … Oh, hier gab es Fleisch und Kartoffeln, außerdem noch Möhren, aber leider kein Bier. Er hatte ein Glas warme Milch vorgesetzt bekommen, fast frisch obendrein. Missus Quickly, die Köchin, ließ ihn nicht aus den Augen und hatte bereits das Besteck weggeräumt, doch abgesehen davon schien es eine annehmbare Bude zu sein, obwohl es ein bisschen Gemurre von der Alten des Mister Henry gegeben hatte, weil er ihr praktisch mitten in der Nacht Straßenstreuner ins Haus brachte. Dodger schenkte allem, was er sah und hörte, große forensische Aufmerksamkeit und gewann den Eindruck, dass die Angetraute des besagten Henry nicht zum ersten Mal Grund zu derartiger Klage bekam. Sie klang wie eine Person, die die Faxen so richtig dicke hatte, sich aber nichts daraus zu machen versuchte. Wie auch immer, Dodger hatte seine Mahlzeit bekommen (was wichtig war), Ehefrau und Zofe waren mit der jungen Dame fortgeeilt, und jetzt … stieg jemand die Treppe zur Küche herunter.

Es war Charlie, und Charlie beunruhigte Dodger. Henry schien einer jener Gutmenschen zu sein, die sich schuldig fühlten, weil sie Geld und Essen im Überfluss hatten, während es anderen Leuten an beidem mangelte. Dodger kannte diese Leute. Ihm persönlich machte es nichts aus, Geld zu haben, während andere Leute keins hatten, aber wenn man ein Leben wie er führte, zahlte es sich aus, großzügig zu sein, sofern man bei Kasse war. Man brauchte Freunde. Freunde sagten zum Beispieclass="underline" »Dodger? Hab nie von ihm gehört, Meister, hab ihn nie gesehen! Bestimmt meinst du ’nen anderen Typen.« In der Stadt musste man sich irgendwie durchschlagen. Man musste wachsam und stets auf Draht sein, immerzu, wenn man überleben wollte.

Er blieb am Leben, weil er Dodger war, schlau und schnell. Er kannte alle, und alle kannten ihn. Niemand hatte ihn jemals vor den Kadi gebracht, er war schneller als der schnellste Bow Street Runner, und er lief selbst den Peelern davon, die die Runner von der Bow Street abgelöst hatten, nachdem man ihnen auf die Schliche gekommen war. Wenn die Polizisten jemanden verhaften wollten, mussten sie ihn erst einmal ergreifen, und das war ihnen bei Dodger noch nie gelungen.

Nein, Henry stellte kein Problem dar, aber Charlie … Oh, Charlie schien ein Mann zu sein, der, wenn er jemanden ansah, tief in ihn hineinblickte. Charlie, so dachte sich Dodger, konnte ein gefährlicher Typ sein, ein Gentleman, der die Besonderheiten der Welt kannte und hinter den weichen Vorhang schöner Worte schaute, dorthin, wo die Gedanken flüsterten, und das war tatsächlich sehr gefährlich. Hier war er nun, dieser Mann – er kam die Treppe herunter, und das Geklimper von Münzen begleitete ihn.

Charlie nickte der Köchin zu, die gerade aufräumte, und setzte sich auf die Bank, neben Dodger, der ein wenig beiseiterücken musste, um Platz zu machen.

»Also … Dodger, nicht wahr?«, sagte er. »Du erfährst sicher mit Freude, dass es der jungen Dame, der du geholfen hast, nach der ärztlichen Behandlung besser geht. Leider lässt sich das von ihrem ungeborenen Kind nicht behaupten, das den schrecklichen Ereignissen zum Opfer gefallen ist.«

Kind! Das Wort traf Dodger wie ein Totschläger, und im Gegensatz zu einem Totschläger verschwand es nicht, sondern blieb. Ein Kind … Für den Rest des Gesprächs hing das Wort am Rand seines Blickfelds und ließ ihm keine Ruhe. Laut sagte er: »Davon wusste ich nichts.«

»Oh, ich bin sicher, dass du nichts davon wusstest«, erwiderte Charlie. »Im Dunkeln war es nur ein weiteres schreckliches Verbrechen – und sicher nur eins von vielen in dieser Nacht. Das weißt du ebenso gut wie ich, Dodger. Doch dieses Verbrechen war so dreist, unmittelbar vor mir stattzufinden, und deshalb möchte ich ein bisschen Polizeiarbeit leisten, allerdings ohne die Polizei, die in diesem Fall, so fürchte ich, kaum von großer Hilfe wäre.«

An Charlies Gesicht ließ sich nichts ablesen, und das war erstaunlich, denn Dodger verstand sich gut darauf, in Gesichtern Hinweise zu erkennen. Ernst fuhr der Mann fort: »Ich frage mich, ob die beiden Gentlemen, denen du begegnet bist, der jungen Dame wegen des Kinds zusetzten. Vielleicht finden wir es nie heraus, vielleicht doch.« Und dort war es – das Wörtchen doch, wie ein Messer, das schnitt und schnitt, bis es auf Erleuchtung traf. Charlies Gesicht blieb völlig ausdruckslos. »Ich frage mich, ob andere Gentlemen unter Umständen davon wussten, und deshalb, mein junger Herr, sind hier zwei Shillings für dich. Und noch einer mehr, wenn du mir einige Fragen beantwortest. Ich gedenke nämlich, dieser seltsamen Angelegenheit auf den Grund zu gehen.«

Dodger betrachtete die Münzen. »Um welche Fragen handelt es sich?« Er lebte in einer Welt, in der niemand Fragen stellte, abgesehen von den Fragen Wie viel? und Was ist für mich drin? Und er wusste – er wusste es wirklich –, dass Charlie es ebenfalls wusste.

»Kannst du lesen und schreiben, Dodger?«, fuhr Charlie fort.

Dodger neigte den Kopf zur Seite. »Ist das eine Frage, für die ich einen Shilling bekomme?«

»Nein«, schnauzte Charlie. »Ich lasse einen Viertelpenny für diese kleine Auskunft springen, mehr nicht. Hier ist er. Wo ist die Antwort?«

Dodger schnappte sich die Münze. »Ich kann Bier, Gin und Ale lesen. Ist doch sinnlos, sich den Kopf mit Kram vollzustopfen, den man gar nicht braucht, finde ich.« Lag da die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen des Mannes?, fragte er sich.

»Offenbar bist du ein Akademiker, Mister Dodger. Vielleicht sollte ich dir sagen, dass die junge Dame … Nun, jemand ist nicht besonders sanft mit ihr umgegangen.«

Er lächelte nicht mehr, und Dodger geriet plötzlich in Panik und rief: »Ich nicht! Ich habe ihr nie nichts getan, das ist die reine Wahrheit! Ich bin vielleicht kein Engel, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ein Schurke bin.«

Charlies Hand packte Dodger, als er aufstehen wollte. »Du hast ihr nie nichts getan? Du hast nie nichts getan, Dodger? Wenn du niemals nichts getan hast, hast du die ganze Zeit über irgendetwas getan, und bitte sehr, das ist ein Geständnis, unüberhörbar aus deinem Mund. Ich bin ziemlich sicher, dass du nie zur Schule gegangen bist, Mister Dodger, dafür scheinst du mir zu schlau zu sein. Aber wenn du zur Schule gegangen wärst und dort Sätze wie Ich habe nie nichts getan gesagt hättest … Dann hätte dir dein Lehrer vermutlich das Fell über die Ohren gezogen. Aber hör mir gut zu, Dodger! Ich glaube dir, dass du der jungen Dame nichts angetan hast, und ich habe mindestens einen guten Grund, um davon überzeugt zu sein. Vielleicht hast du nicht bemerkt, dass sie an einem Finger einen der größten kunstvoll verzierten Goldringe trägt, die ich je gesehen habe, einen Ring, der etwas zu bedeuten hat. Und wenn du darauf aus gewesen wärst, besagter Dame zu schaden, hättest du den Ring bestimmt gestohlen, so wie du vorhin meine Brieftasche gestohlen hast.«