Dodger hielt inne und bedachte, was er gerade gesagt hatte. Der gesunde Menschenverstand verlangte natürlich, dass er jemandem, der mit Notizbuch und Stift bewaffnet war, nichts übers Stehlen und die Sache mit dem Snakesman verriet. Solche Offenbarungen mochten bei einem Mann wie Charlie gut aufgehoben sein, aber bei Leuten wie Mister Mayhew setzte er der Geschichte wohl besser ein paar Glanzlichter auf.
»Einmal habe ich da unten sogar ein altes Bettgestell gefunden. Und es ist erstaunlich, wie das Licht einen Weg hinabfindet«, sagte Dodger und lächelte, während Mister Mayhew ihn mit einer Mischung aus Bestürzung und Verwirrung musterte, vielleicht auch mit einem Hauch Bewunderung.
Dann sagte der Mann: »Noch ein letzter Punkt, mein lieber Dodger. Wärst du bereit, mir zu verraten, wie viel du mit deiner Arbeit als Tosher verdienst?«
Eine solche Frage hatte Dodger erwartet. Instinktiv halbierte er die betreffende Summe und antwortete: »Es gibt gute und schlechte Tage, Sir, aber ich schätze, ich verdiene so viel wie ein Kaminkehrer. Hinzu kommt der eine oder andere Glücksfall.«
»Und bist du mit deiner Tätigkeit zufrieden?«
»O ja, Sir. Ich gehe meiner Wege, ich bin niemandem verpflichtet, und jeder Tag ist wie ein neues Abenteuer, Sir, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Um seiner neuen Rolle als aufrechter, ehrlicher junger Mann gerecht zu werden, fügte er hinzu: »Natürlich finde ich dort unten gelegentlich einen Gegenstand, den jemand verloren hat, und es wärmt mir das Herz, wenn ich ihn zurückgeben kann.« Eigentlich stimmte das sogar, fügte er in Gedanken hinzu, auch wenn es dabei um den einen oder anderen Shilling ging.
Nach einer Weile räusperte sich Mister Mayhew und sagte: »Ich danke dir für deine erhellenden Auskünfte, Dodger. Wie ich sehe, bist du mit dem Frühstück fertig und hast keinen einzigen Krümel auf dem Teller zurückgelassen. Vielleicht ist es an der Zeit, dir einen Besuch bei unserem Gast zu gestatten. Hast du jemals ein Bad genommen? Ich muss sagen, dass du erstaunlich sauber bist, wenn man deinen Beruf bedenkt.«
Dodger grinste, als er das hörte. »Das ist wegen Solomon, Sir. Damit meine ich den alten Mann, bei dem ich wohne. Er kann Schmutz nicht ausstehen, Sir, weil er zum auserwählten Volk gehört. Und ja, es gibt ein Bad im Hinterzimmer, ein kleines, in dem man steht und sich mit einem Lappen abwäscht, Sir, und wir haben sogar Seife, ich schwöre. Jemand hat einmal gesagt, Sauberkeit kommt gleich nach Gottesfurcht, aber Solomon fürchtet Gott überhaupt nicht und scheint Reinlichkeit für wichtiger zu halten.«
Mister Mayhew starrte Dodger an wie ein Mann, der eine Sixpence-Münze unter mehreren Viertelpennys entdeckt hat. »Du erstaunst mich, Dodger. Fast erscheinst du mir wie ein Brandzeichen, das sich selbst aus dem Feuer zieht.«
Eine Minute später wurde Dodger oben ins recht dunkle Dienstmädchenzimmer geführt. Die junge Frau mit dem goldenen Haar saß auf dem Bett wie jemand, der gerade erwacht war, und ihr Lächeln schien den Raum heller zu machen, zumindest für Dodger, dessen leicht angegriffenes Herz rascher schlug.
»Hier ist die junge Dame, die sich glücklicherweise gut erholt«, sagte Mister Mayhew. Er deutete auf die andere anwesende Person. »Das ist natürlich meine Frau Jane, der du bereits begegnet bist, glaube ich, der ich dich aber noch nicht vorgestellt habe. Meine Teure, dies ist Dodger, der Retter holder Maiden in Not, wie du sicher weißt.«
Dodger war unsicher, ob er Mister Mayhews Worte richtig verstanden hatte, aber er hielt einen Hinweis für angebracht, nur für den Fall, dass es später Ärger gab. »Es war nur eine junge Frau in Not – wenn Maid so etwas wie Dame bedeutet, Sir.«
Missus Mayhew – sie saß neben der Unbekannten, mit einem Suppenteller und einem Löffel in den Händen – stand auf, stellte den Teller ab und streckte die Hand aus. »Unsere Dame in Not, in der Tat, Dodger. Wie töricht von meinem Mann zu glauben, es könnte mehr als eine Dame gewesen sein.« Sie und ihr Mann lächelten, und Dodger fragte sich, ob ihm ein Witz entgangen war. Doch Missus Mayhew hatte noch mehr zu sagen.
Dodger wusste über Familien sowie Ehemänner und Ehefrauen Bescheid. Die Frauen halfen ihren Männern oft, wenn sie auf der Straße Waren verkauften, zum Beispiel gebackene Kartoffeln und Sandwiches – gebackene Kartoffeln waren ein echter Leckerbissen –, und manchmal machten ganze Familien bei dieser Arbeit mit. Dodger, der ein Auge für solche Zusammenhänge hatte, beobachtete die Gesichter und achtete darauf, wie die Leute miteinander sprachen, und manchmal gewann er folgenden Eindruck: Obwohl der Mann der Herr war, wie es sich gehörte, schien die Ehe doch wie ein Kahn auf dem Fluss zu sein, wobei die Ehefrau dem Wind ähnelte, der dem Kapitän vorgab, in welche Richtung der Kahn zu segeln hatte. Missus Mayhew war vielleicht nicht der Wind, aber sie verstand es zu pusten.
Die beiden Eheleute lächelten sich an, und Missus Mayhew sagte traurig: »Ich fürchte, die schrecklichen Schläge, die diese junge Frau abbekommen hat – und nicht zum ersten Mal, wie ich vermute –, brachten ihre Erinnerungen durcheinander, und deshalb kann ich sie leider nicht richtig vorstellen. Simplicity muss zunächst als Name genügen, ein guter christlicher Name, wie ich hinzufügen möchte. Er gefällt mir, denn eine alte Freundin von mir hieß so. Die Dame ist recht jung, und wir können hoffen, dass sie schnell wieder zu Kräften kommt. Derzeit allerdings halte ich die Vorhänge so lange wie möglich geschlossen, um die Geräusche der Kutschen auf der Straße zu dämpfen – sie scheinen Simplicity zu beunruhigen. Es freut mich festzustellen, dass sie nicht mehr so schwach ist wie zu Anfang, und auch die blauen Flecken verblassen. Unglücklicherweise muss ich annehmen, dass ihr Leben in jüngster Zeit nicht … angenehm gewesen ist, obwohl es Anzeichen dafür gibt, dass es einmal … erträglicher war. Immerhin muss jemand etwas für sie übrig gehabt haben, als er ihr den Ring schenkte, den sie am Finger trägt.«
Dodger wusste nicht, mit welchem Code sich Mister Mayhew und seine Frau verständigten, aber er bemerkte, dass ein großer Teil davon aus bedeutungsvollen Blicken bestand, und eine der wortlosen Botschaften lautete offenbar: Im Beisein dieses Jungen sollten wir besser nicht ausführlicher über einen wertvollen Ring reden.
Dodger sagte: »Sie fürchtet sich, wenn sie Kutschen hört, ja? Was ist mit anderen Geräuschen, wie zum Beispiel Pferden und Düngewagen[3], die ziemlich laut rumpeln?«
»Du bist ein überaus scharfsinniger junger Mann«, sagte Missus Mayhew.
Dodger errötete. »Ach, so scharf bin ich gar nicht«, entgegnete er.
»Nein, Dodger«, sagte Missus Mayhew, ohne die Miene zu verziehen. »Ich meine, dass du schnell verstehst, und außerdem bist du ein Mann von Welt beziehungsweise von London, was aufs selbe hinausläuft. Mister Dickens hofft, dass du imstande bist, uns bei der Aufklärung dieses Rätsels zu helfen.« Sie wechselte einen weiteren Blick mit ihrem Mann und fügte hinzu: »Du weißt vermutlich, dass diese Sache noch einen anderen teuflischen Aspekt hat.« Sie zögerte wie bei dem Versuch, unangenehme Gedanken aus ihrem Kopf zu verscheuchen. »Ich nehme an, dir ist klar, dass die junge Dame … dass sie … ich meine …« Mit einer Mischung aus Verlegenheit und Verwirrung rauschte Missus Mayhew hinaus und hinterließ ein plötzlich stilles Zimmer.
Dodger blickte zu Simplicity hinüber und wandte sich dann an Mister Mayhew. »Sir, wenn Sie nichts dagegen haben … Ich würde gern allein mit Simplicity reden. Ich kann ihr dabei helfen, die Suppe zu essen. Vielleicht ist sie bereit, sich ein wenig mit mir zu unterhalten.«
»Nun, es erscheint mir unziemlich, eine junge Dame allein in einem Schlafzimmer in deiner Gesellschaft zu lassen.«
3
Etwa zur Zeit von Dodger gingen die meisten Abwässer von London in Faulbehälter oder Senkgruben, die regelmäßig geleert wurden. Düngewagen brachten ihren Inhalt fort.