»Ja, Sir, es ist auch unziemlich, eine junge Dame halb totzuschlagen und sie ertränken zu wollen, aber das war nicht ich, Sir. Deshalb frage ich mich, ob Sie vielleicht bereit wären, die Regeln in der privaten Welt Ihres Hauses ein wenig … menschlicher zu gestalten.«
Ein Geräusch wies darauf hin, dass Missus Mayhew draußen vor der Tür wartete, und der plötzlich leicht konfuse Henry Mayhew sagte: »Ich lasse die Tür offen. Wenn Miss Simplicity einverstanden ist.«
Seinen Worten folgte vom Bett her sofort der unverkennbare Klang von Simplicitys Stimme. »Bitte, Sir, ich würde mich über die Gelegenheit freuen, ein christliches Wort mit meinem Retter zu wechseln.«
Mister Mayhew ließ die Tür tatsächlich einen Spaltbreit offen, und Dodger fühlte sich von einer seltsamen Unsicherheit erfasst, als er auf dem Stuhl Platz nahm, den Missus Mayhew freigegeben hatte. Er schenkte Simplicity ein unsicheres Lächeln, das sie mit beträchtlichem Wohlwollen erwiderte. Dann nahm er den Suppenlöffel, bot ihn ihr an und fragte: »Was wünschst du dir? Was soll als Nächstes geschehen?«
Ihr Lächeln wurde breiter. Langsam und vorsichtig nahm sie den Löffel entgegen, hob ihn zum Mund und schluckte ihre Suppe. Mit leiser Stimme erwiderte sie: »Ich würde gern sagen, dass ich nach Hause möchte, aber ich habe kein Zuhause mehr. Und ich weiß nicht, wem ich trauen kann. Kann ich dir trauen, Dodger? Ich glaube, ich sollte einem Mann vertrauen, der tapfer für eine Frau gekämpft hat, die er nicht einmal kennt.«
Dodger tat so, als wäre es nichts Besonderes für ihn, junge Frauen in Not zu retten. »Ich bin ziemlich sicher, dass du Mister und Missus Mayhew vertrauen kannst.«
Doch Simplicity überraschte ihn mit den Worten: »Nein, da bin ich mir nicht sicher. Mister Mayhew hätte es lieber, wenn wir beide nicht miteinander reden, Dodger. Er scheint zu glauben, dass du mir gegenüber die Situation irgendwie ausnützen könntest. Aber das halte ich für …« Sie überlegte und schien nach einem geeigneten Wort zu suchen. »… unpassend. Du hast für mich gekämpft, du hast mich gerettet, und jetzt willst du mir etwas zuleide tun? Die Mayhews sind gute Menschen, kein Zweifel, aber gute Menschen könnten zum Beispiel auf den Gedanken kommen, dass es besser wäre, mich den Gesandten meines Mannes zu übergeben, da ich seine Ehefrau bin. Manche Leute nehmen es mit solchen Äußerlichkeiten sehr genau. Zweifellos käme jemand mit einem unterschriebenen Dokument, ausgestattet mit einem eindrucksvollen Siegel, und dann würden die Mayhews dem Gesetz gehorchen. Einem Gesetz, das zulässt, mich aus dem Land zu bringen, in dem meine Mutter geboren ist, zurück zu einem Ehemann, dem ich peinlich bin und der es nicht wagt, seinem Vater zu trotzen.«
Ihre Stimme wurde kräftiger, als sie sprach, und Dodger merkte plötzlich, dass sie auch immer mehr wie ein Straßenmädchen klang, wie ein Mensch, der wusste, wie der Hase lief. Der leichte deutsche Akzent war verschwunden, und die Vokale von England lagen in Simplicitys Ton. Außerdem ging sie genauso vor wie alle klugen Menschen: Sie verriet nichts, was der andere nicht unbedingt wissen musste.
Dodger versuchte, dem Akzent einen Ort zuzuordnen. Er wusste von fremden Sprachen, aber als anständiger Londoner hielt er nicht viel davon und wusste wie alle anderen: Wer kein Engländer war, wurde früher oder später zu einem Feind. Wenn man sich bei den Docks herumtrieb, lernte man die fremden Sprachen nicht unbedingt, aber man wurde zumindest mit ihrem Klang vertraut. Ein aufmerksames Ohr stellte fest, dass ein Holländer anders sprach als ein Deutscher, einen Schweden erkannte man natürlich immer, und Finnen gähnten, wenn sie mit einem redeten. Dodger konnte eine Sprache gut von der anderen unterscheiden, aber er hatte sich nie die Mühe gemacht, eine von ihnen zu erlernen. Allerdings hatte er schon als Zwölfjähriger gewusst, was Wo geht’s zu den leichten Mädchen? in verschiedenen Sprachen hieß, unter ihnen Chinesisch und einige afrikanische Sprachen. Jede Dockratte war mit diesen Worten vertraut, und die leichten Mädchen gaben einem vielleicht einen Viertelpenny, wenn man den neugierigen Herren die richtige Richtung wies. Als er älter wurde, begriff er, dass manche Leute diese Richtung für die falsche hielten. Offenbar gab es zwei verschiedene Sichtweisen für die Welt, aber nur eine, wenn man hungerte.
Er hörte Bewegung auf der anderen Seite der Tür, stand sogleich auf, hurtig wie ein Wächter, und salutierte praktisch vor dem höchst erstaunten Mister Mayhew und seiner Frau.
»Sir, Madam, ich habe ein nettes Gespräch mit Simplicity geführt. Das Geräusch von Kutschen scheint sie tatsächlich zu ängstigen. Wenn ich sie nach draußen begleiten könnte, damit sie Gelegenheit bekäme, ein wenig frische Luft zu genießen … dann könnte sie sehen, dass es ganz gewöhnliche Kutschen sind. Also, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Simplicity zu einem kleinen Spaziergang ausführe?«
Ein tiefes Schweigen folgte diesen Worten und wies Dodger darauf hin, dass seine Gastgeber den Vorschlag vermutlich für keinen guten Einfall hielten. Plötzlich ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf, und der lautete: Ich rede mit diesen Leuten, als stünde ich mit ihnen auf einer Stufe! Es ist bemerkenswert, was ein gebrauchter Anzug und eine Portion Schinken mit Eiern mit einem Menschen anstellen können. Aber ich bin noch immer der Bursche, der heute Morgen als Tosher aufgewacht ist, und bei diesem Ehepaar handelt es sich noch immer um Mister und Missus Mayhew, die heute Morgen in diesem großen Haus aufgewacht sind, und deshalb sollte ich besser vorsichtig sein, damit sie mich nicht wieder für einen Tosher halten und hinauswerfen. An sich selbst gerichtet fügte er ziemlich frech hinzu: Ich habe keinen Herrn, niemand kann mir Befehle erteilen, ich werde nicht von den Peelern gesucht, und ich habe nichts getan, dessen ich mich schämen müsste. Ich hab nicht so viel Geld wie diese Leute, o nein, bei Weitem nicht, aber ich bin nicht schlechter als sie.
Missus Mayhew zögerte und sagte dann sehr behutsam: »Ich bin ganz sicher, dass Simplicity früher oder später an die frische Luft muss, und deshalb liegt ein solcher Spaziergang durchaus im Bereich des Möglichen, Dodger. Aber du verstehst sicher, dass er nur in Anwesenheit einer Anstandsdame stattfinden kann. Sie einfach so einem jungen Mann zu überlassen, wie tapfer und heldenhaft er auch sein mag, stieße in vornehmen Kreisen auf Missbilligung. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass du nur die besten Absichten hast, aber wir müssen uns trotzdem strikt an diese Regeln halten.«
Mister Mayhew wirkte ebenso verlegen wie seine Frau, und Dodger, der noch immer seinem Glück vertraute, sagte in besonders einschmeichelndem Ton: »Liebe Missus Mayhew, ich verspreche Ihnen, dass es kein Techtelmechtel geben wird, denn ich weiß nicht, was ein Techtel ist, und mit dem Mechtel kenne ich mich nicht aus.«
Für einen Moment wich die Strenge aus Missus Mayhews Blick, und sie sagte: »Du bist ein ziemlich unverfrorener junger Mann, Dodger.«
»Das hoffe ich sehr, Missus Mayhew, denn wer friert schon gern? Ich habe es lieber warm, und ganz abgesehen davon, Missus Mayhew: Unverfrorenheit ist besser als Dummheit. Ich versichere Ihnen, dass mir viel an Simplicitys Wohlergehen liegt. Ich habe auch daran gedacht, dass wir alle die Kerle finden wollen, die sie zusammengeschlagen haben, und wenn ich mit ihr einen Spaziergang unternehme, stößt sie in der Stadt vielleicht auf Hinweise, die uns weiterhelfen könnten. Ich weiß, dass die Kutsche, aus der sie entkam, ein Geräusch verursachte, das ich bisher von keinem Kutschenrad gehört habe. Ich denke: Wenn man die Kutsche findet, hätte man einen Anhaltspunkt.«
Mister Mayhew sah seine Frau an und sagte: »Du bist lobenswert eloquent, Dodger, aber wir – das heißt, meine Frau und ich – sind der Ansicht, dass es bei dieser Situation noch andere Aspekte gibt.«
Dodger straffte die Schultern. »Ja, Sir, das fürchte ich ebenfalls, und ich glaube, auch Charlie ist dieser Meinung. Ich weiß nicht, was eloquent bedeutet, aber ich kenne London, Sir, jeden schmutzigen Quadratzentimeter, und ich weiß, wo es sicher ist und wo nicht. Alle kennen Dodger, Sir, und Dodger kennt alle. Also wird Dodger herausfinden, was er Ihren Wünschen gemäß herausfinden soll.«