Выбрать главу

»Ja, Dodger«, sagte Missus Mayhew. »Da hast du bestimmt recht, aber mein Mann und ich fühlen uns in loco parentis der jungen Dame gegenüber, die offenbar sonst niemanden hat, der sich um sie kümmert, und deshalb müssen die gesellschaftlichen Gepflogenheiten beachtet werden.«

Dodger, der nicht wusste, was ein loco parentis war, hob die Schultern und sagte: »Völlig klar, Missus, aber ich komme morgen trotzdem hierher, am Nachmittag, für den Fall, dass Sie es sich anders überlegen.«

Mister Mayhew schloss zu ihm auf, als er die Küche erreichte. »Meine Frau ist ein bisschen überempfindlich, wenn du verstehst, was ich meine.«

Dodger konnte nur »Nein, ich verstehe nicht« antworten, und wie zwei Gentlemen beließen sie es dabei. Er schüttelte Mister Mayhew die Hand, eilte durch die Küchentür und staunte noch immer darüber, dass die Mayhews so kühne Worte aus seinem Mund zugelassen hatten. Er brannte darauf, Sol davon zu erzählen.

Die Köchin wirkte nicht überrascht, als er in der Küche erschien. »Oh, mein Junge«, sagte sie, »bist ein aufgehender Stern, wie? Verkehrst mit besseren Leuten! Gut für dich! Der Bursche, den ich hier vor mir sehe, ist offenbar nicht irgendein Tosher, sondern ein kluger junger Mann, für den die Welt günstige Gelegenheiten bietet.« Sie reichte ihm ein schmieriges Bündel und sagte: »Zur Zeit ist hier das Geld knapp. Die Dinge ringsum sind ein wenig besorgniserregend geworden, du weißt es natürlich nicht, aber das zweite Dienstmädchen musste uns verlassen. Ich nehme an, Missus Sharples ist die Nächste, wenn es schlimmer wird, kein großer Verlust, und anschließend bin ich an der Reihe, obwohl ich mir die Hausherrin kaum am Herd vorstellen kann. Aber ich habe dir einige Reste eingepackt, ein paar kalte Kartoffeln und Möhren, außerdem ein ordentliches Stück Schweinefleisch.«

Dodger nahm das Bündel. »Vielen Dank. Da ist sehr nett von Ihnen.«

Das veranlasste Missus Quickly, die Arme um ihn zu schlingen und mit ihm schmusen zu wollen. »Wie ein wahrer Herr gesprochen. Vielleicht könntest du deine Dankbarkeit mit einem kleinen Kuss unterstreichen …«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu.

Und so küsste Dodger die Köchin, eine recht vollbusige Dame, die ziemlich lange küsste, und als er sich von ihr lösen durfte, sagte sie: »Wenn du hoch aufsteigst … Vergiss nicht diejenigen, die tief unten leben.« 

6

Hier kauft ein Sixpence viel Suppe, und das Gold eines Fremden kauft einen Spion …

Der Kuss der Köchin bescherte Dodger eine Verlegenheit, die ihm bis nach Hause folgte, ebenso wie ein bisschen Gekröse. Irgendwie war er nicht mehr ganz sicher, wer er eigentlich war: ein Junge aus der Kanalisation oder einer, der mit feinen Leuten verkehrte – obgleich er genug wusste und begriff, dass Mister und Missus Mayhew nicht unbedingt zu den feinen Herrschaften zählten, trotz des großen Hauses und der Bediensteten. Das Haus war zweifellos besser als alle Unterkünfte, in denen Dodger jemals gewohnt hatte, aber hier und dort neigte es ein wenig zum Schäbigen. Von Schmutz im eigentlichen Sinn konnte keine Rede sein, doch an einigen Stellen gab es Anzeichen von Vernachlässigung, die darauf hindeuteten, dass das Geld tatsächlich knapp war, wie Missus Quickly gesagt hatte. Selbst Leute wie die Mayhews mussten auf den Penny achten.

Missus Mayhew war ebenfalls besorgt gewesen, und Dodger hatte den Eindruck gewonnen, dass die Sorge bei ihr gewissermaßen eingebaut war und nicht nur Simplicity galt. Er tat es mit einem Schulterzucken ab. Vielleicht ist das der Lauf der Welt, dachte er. Je mehr man hat, desto größer die Sorge, es zu verlieren. Wenn das Geld ein bisschen knapp wird, fürchtet man, das hübsche Haus mit all den hübschen Dingen darin aufgeben zu müssen.

Dodger hatte sich Zeit seines Lebens keine großen Sorgen gemacht, es sei denn um elementare Bedürfnisse wie eine anständige Mahlzeit und einen Platz zum Schlafen. Man brauchte kein Haus mit vielen hübschen Dingen (und Dodger war darauf spezialisiert, hübsche Dinge zu bemerken, insbesondere jene, die einen gewissen Wert hatten und schnell in die Tasche gesteckt werden konnten, um sich anschließend in Geld zu verwandeln). Welchen Sinn hatten sie? Sollten sie darauf hinweisen, dass man sich solchen Überfluss leisten konnte? Fühlte man sich dadurch besser? Wurde man glücklicher?

Die Mayhews lebten auf eine steife Art und Weise, und besonders glücklich erschienen sie Dodger nicht. Er hatte eine sonderbare Anspannung gespürt, die er nicht genau benennen konnte, eine irgendwie in der Luft liegende Traurigkeit, und seltsamerweise wurde auch Dodger ein wenig traurig, was ihn erstaunte. Gewöhnlich neigte er nicht dazu, traurig zu sein. Wer hatte schon Zeit für so etwas? Er hatte oft den Hals voll, ärgerte sich und wurde sogar zornig, aber das waren nur Wolken am Himmel; früher oder später zogen sie weiter. Die Schatten ruhten nie lange auf ihm. Doch als er das Haus der Mayhews hinter sich ließ, schien er die Sorgen anderer Leute mitzunehmen.

Dagegen schien es für ihn nur ein einziges Heilmittel zu geben – in die Kanalisation hinunterzusteigen. Denn wenn er schon down war, konnte er auch die Gelegenheit nutzen, ein bisschen herumzusuchen und vielleicht einen Sixpence zu finden. Doch erst musste er zur Mansarde zurück und sich umziehen – der gebrauchte Anzug war die beste und schickste Kleidung, die er je besessen hatte, und es gehörte sich nicht, darin zu arbeiten, oder?

Aber … Simplicity. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu ihr zurück. Er fragte sich, wer sie war, wer vielleicht wusste, was ihr widerfahren war und aus welchem Grund. Und natürlich, wer sie zusammengeschlagen hatte. Das musste er unbedingt herausfinden. Und in dieser überfüllten Stadt gab es immer jemanden, der alles hörte, was andere sagten.

Die Polizei wusste natürlich nichts, denn niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte, sprach mit den Peelern. Einer oder zwei von ihnen waren ganz in Ordnung, aber es brachte nichts, ihnen zu vertrauen. Doch mit Dodger sprachen die Leute, dem guten alten Dodger, insbesondere wenn er ihnen einen Sixpence lieh, zurückzuzahlen am Sankt Nimmerleinstag.

Und so war seine Rückkehr zur Mansarde, wo er sich umziehen wollte, keine gerade Strecke, sondern ein Weg voller Windungen und Drehungen, denn er machte hier und dort halt, um mit Leuten zu reden, die manche für Abschaum hielten, zum Beispiel mit den Cockneys, die Äpfel verkauften und nichts lieber taten, als sich gegen die Peeler zusammenzurotten und einen regelrechten Krieg zu führen, wobei jede Waffe recht war. Er sprach mit den Straßenhändlern, die von hauchdünnen Gewinnmargen lebten. Und er plauderte mit den Damen, die herumhingen, ohne viel zu tun, sich aber immer freuten, wenn sie einem Herrn mit Geld begegneten, der nett und großzügig war, erst recht wenn sie ihm etwas ins Glas getan hatten. Anschließend konnte sich der Betreffende vielleicht über eine lange Reise die Themse hinunter freuen, zu fernen, fernen Orten, wo er Gelegenheit bekam, ganz besondere Menschen kennenzulernen, von denen ihn einige sogar fressen wollten, wie man hörte. Wenn einer der Herren echt Pech hatte – oder wenn er eine Person wie Missus Holland in Bankside verärgert hatte –, so machte er die Reise die Themse hinunter ohne Boot oder Schiff …

Dann gab es da die Männer beim Würfelspiel, bei dem man immerhin gewinnen konnte, wenn man nüchtern genug war und die Würfel richtig fielen. Anders sah es bei dem Spiel aus, das einem von einem fröhlichen Burschen mit einem Brett, drei Fingerhüten und einer Erbse angeboten wurde. Auf diesem kleinen Schlachtfeld setzte man Geld auf den Verbleib besagter Erbse, wobei man sich auf seine scharfen Augen verließ, während der gut gelaunt schwatzende Mann die Fingerhüte bewegte. Nie, nie erriet man den richtigen Fingerhut, denn wo sich die Erbse wirklich befand, wussten nur der fröhliche Mann und Gott, und vermutlich war nicht einmal Gott sicher. Wenn man genug getrunken hatte, versuchte man es stets von Neuem, wobei man immer mehr Geld wettete, denn selbst wenn man einfach nur riet, früher oder später musste man auf den richtigen Fingerhut deuten. Aber leider, leider kam es nie dazu.