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Schließlich gab es da noch das Kasperletheater, das sich in letzter Zeit besonders großer Beliebtheit erfreute, weil es dabei einen Polizisten gab, den der Kasper mit seinem Stock verhauen konnte. Die Kinder lachten, und die Erwachsenen lachten ebenfalls, alle lachten, wenn der Kasper mit seiner quiekenden Stimme, die nach einem schrecklichen Raubvogel oder dem quietschenden Rad einer Kutsche klang, »So wird das gemacht!« rief.

Wenn man älter wurde, verstand man: Kasper war der Mann, der den Säugling aus dem Fenster warf und seine Frau schlug. So etwas passierte natürlich: das Schlagen der Frau ganz gewiss, und was mit dem Säugling geschah … so etwas eignete sich nicht für Kinder. In glücklichen Familien ging es sicher anders zu.

In Dodgers Geist bildete sich nach und nach eine grässliche, schimmernde Dunkelheit, darin eingebettet eine junge Frau mit wundervollem goldenem Haar, und als er am Kasperletheater vorbeikam, ballte er unwillkürlich die Fäuste und musste sich beherrschen, um der quiekenden, quietschenden Puppe keinen Schlag zu versetzen. Ein Schaudern erfasste ihn, und er zwang sich auf den Boden der Realität zurück. Er kannte dies alles, er hatte es immer gekannt. Aber Simplicity … Nun, Simplicity war eine Person, für die er vielleicht etwas tun konnte. Und dieses Etwas betraf nicht nur Simplicity, sondern auch ihn selbst, auf eine seltsame Art und Weise, die er noch nicht ganz verstand.

Wenn er Darbietungen sehen wollte, bei denen er sich nicht mies fühlte oder zornig wurde, dann ging er zu den Männern mit den Hunden, die Kunststücke zeigten, oder zu den Männern, die schwere Gewichte hoben, oder zu den Boxern, die natürlich mit bloßen Fäusten kämpften.

Aber an diesem Tag stellte Dodger Fragen, und dabei gab er sich alle Mühe. Er sprach mit zwei Damen, die auf einen Herrn warteten. Er sprach mit den Würfelspielern, die ihn dem Namen nach kannten, und er sprach auch mit dem ächzenden Gewichtheber. Bei einer Gelegenheit erinnerte er sogar jemanden an die Sixpence, die er ihm einmal wegen seiner armen Mutter geliehen hatte, und er fügte geschickt hinzu: »Oh, keine Sorge, ich bin sicher, du zahlst mir das Geld eines Tages zurück.« Kurz gesagt, Dodger bewegte sich auf der Bühne der Welt, zumindest jenes Teils der Welt, der sich im Rotlichtviertel von London befand, streckte überall seine Fühler aus und ließ kleine Fragen in der Luft schweben. Wenn jemand eine Kutsche quietschen hörte, sollte er Dodger Bescheid geben. Oder besser noch, dachte er: Wenn der Besitzer einer quietschenden Kutsche – einer Kutsche, die quietschte oder schrie wie ein Schwein beim Anblick des Schlachtermessers – von den Fragen erfuhr, so wollte er die Sache vielleicht mit dem Fragesteller klären. Er verglich es damit, Brotkrumen ins Wasser zu werfen, um zu sehen, ob etwas aufstieg und danach schnappte. Der Nachteil dieser Methode bestand darin, dass das Wesen, das hungrig aufstieg, ein Hai sein konnte.

Dann fiel ihm der Glückliche-Familie-Mann ein. Dodger zögerte bei diesem Gedanken und fragte sich, wo und wann er den Glückliche-Familie-Mann und seinen Wagen zum letzten Mal gesehen hatte, wahrscheinlich auf einer der Brücken, wo es immer viel Laufkundschaft gab. Es war eine zauberhafte Sache, das mit der glücklichen Familie, der kleine Wagen mit seiner bunten Menagerie aus Tieren, die alle friedlich zusammenlebten. Dodger nahm sich vor, Simplicity bei der ersten sich bietenden Gelegenheit dorthin mitzunehmen, sie wäre bestimmt entzückt. Dann merkte er plötzlich, dass er weinte, als er in seinem Kopf erneut ein wunderschönes Gesicht betrachtete, das aussah, als hätte man es die Treppe hinuntergeworfen. Jemand hatte ihr Schreckliches angetan, und als er sich mit einem Lappen die Nase putzte, schwor er sich, den Übeltäter – einen Kasper ganz besonderer Art – zu finden und ihm eine Lektion zu erteilen, die er so schnell nicht vergaß.

Etwas lenkte Dodger ab, etwas, das an seinen Hosenbeinen zog, und als er den Blick senkte, entdeckte er zwei Kinder, fünf oder sechs Jahre alt, die hoffnungsvoll zu ihm aufsahen. Es war nicht unbedingt der Anblick, den er gerade brauchte, aber beide Kinder hatten jeweils eine Hand ausgestreckt und hielten sich mit der anderen aneinander fest. Er erinnerte sich daran, das selbst einmal getan zu haben, allerdings nur bei Leuten, die er für reich gehalten hatte. Obwohl … wenn man hungrig und fünf Jahre alt war, hatten vermutlich alle mehr Geld als man selbst. In seinen schmucken Klamotten sah Dodger natürlich gar nicht mehr wie ein Tosher aus. Du bist noch immer einer, sagte er sich, aber du bist nicht mehr irgendein Tosher, und jetzt bist du für einen Sixpence ein feiner Herr.

Also führte er die Kinder zur Bude von Marie Jo, die nahrhafte Suppe für Gott und die Welt hatte, falls sie einige Pennys erübrigen konnten. Und manchmal, wenn sie in besonders großzügiger Stimmung war, kostete ihre Suppe noch weniger.

Marie Jo gehörte zu den Guten, und es gab nicht genug von ihnen. Man erzählte sich viele Geschichten über sie, und eine davon lautete, dass sie einmal eine berühmte Schauspielerin irgendwo im Franzmannland gewesen war, und tatsächlich, selbst heute umgab sie noch etwas Feenhaftes. Sie war angeblich mit einem Soldaten verheiratet gewesen, der in irgendeinem Krieg gefallen war, aber glücklicherweise erst nachdem er ihr zugeflüstert hatte, wo die bei den vielen Feldzügen zusammengeraffte Beute versteckt lag.

Als eine der Guten und Anständigen – trotz ihrer Ehe mit einem Franzmann – hatte sie diese Bude eingerichtet, eine von denen, denen man trauen konnte. Mit anderen Worten: Man konnte davon ausgehen, dass die Suppe kein Rattenfleisch enthielt, auch nichts Schlimmeres als Rattenfleisch. Man durfte auch darauf vertrauen, dass Marie Jo keine Suppe austeilte, die mit Bestandteilen von Katzen und Hunden gekocht worden war. Nein, ihre Suppe war voller Linsen und anderer Zutaten, die nicht alle lecker schmeckten, aber zusammen genommen taten sie gut und hielten warm. Zugegeben, manchmal kam ein bisschen was vom Pferd hinein, das war nun mal der Geschmack der Franzmänner und bedeutete eigentlich nur, dass man eine etwas nahrhaftere Suppe aß. Man munkelte, dass selbst einige der großen Speiselokale Marie Jo ihre Reste überließen, in dem Wissen, dass sie in ihrer Bude Verwendung fanden. Die Leute sagten, dass sie mit ihrem französisch angehauchten Charme die Chefköche feiner Restaurants um den Finger wickelte, aber alle sagten »Gut gemacht«, denn alles landete in dem großen Topf, der die ganze Nacht umgerührt wurde, wobei Marie Jo nur innehielt, um den Teller des nächsten Kunden zu füllen. Und man bezahlte, was man ihrer Meinung nach bezahlen sollte, und niemand wagte zu feilschen, denn keiner wollte, dass sie entrüstet mit ihrer Schöpfkelle winkte.

Als Dodger mit den beiden Kindern bei ihr erschien, musterte sie ihn und sagte: »Na, so was, sind wir plötzlich zu Geld gekommen, wem hast du es gestohlen?« Aber sie lachte, denn sie beide erinnerten sich daran, dass vor Jahren, als ihr Haar nicht so weiß gewesen war, ein kleiner Dodger mit ausgestreckter Hand vor ihrer Bude gestanden hatte, so traurig und hoffnungsvoll wie die Kinder, die er mitgebracht hatte.

»Nichts für mich, Marie Jo«, sagte er. »Aber bitte gib den beiden heute und morgen für einen Sixpence zu essen, ja?«

Der Ausdruck ihres Gesichts war seltsam. Wie die Suppe, die sie verkaufte, enthielt er von allem etwas, aber der größte Teil bestand aus Überraschung. Doch dies war die Straße, und sie sagte: »Lass mich deine Sixpence sehen, junger Dodger!« Er klatschte die Münzen auf den Tresen, wo Marie Jo sie betrachtete, ihn wieder musterte und ihren Blick auf die beiden Kinder richtete, die fast sabberten, so groß war ihre freudige Erwartung. Dann sah sie erneut Dodger an, der verlegen errötet war, und sagte leise: »Meine Güte, da liegt das Geld, kein Zweifel, und was tue ich jetzt?« Dann schuf ein großes Lächeln noch mehr Falten in ihrem Gesicht, und sie fügte hinzu: »Für dich, Dodger, gebe ich diesen beiden Schlingeln heute und morgen zu essen, und vielleicht auch übermorgen, aber sag mir doch, was ist nur geschehen? Hat sich die Welt plötzlich auf den Kopf gestellt, als ich nicht hingesehen habe? Behaupte nur nicht, dass du zur Kirche gegangen bist – ein Beichtstuhl genügt bestimmt nicht, um alle deine Sünden zu beichten. Kann man es glauben? Mein kleiner Dodger ist zu einem Engel geworden.«