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Zu jener Zeit hatte er sich über den Viertelpenny geärgert. Was fing eine große Dame, die eine eigene Kutsche besaß, mit einem Viertelpenny in ihrer Tasche an? Viertelpennys waren für arme Leute, und das galt erst recht für halbe Viertelpennys.

So gute Tage bekam man nicht oft, doch es waren nicht die Tage, die der Kanalisation geisterhaftes Leben verliehen, sondern die Nächte. Tosher mochten Nächte mit schwachem Mondschein. Wenn sie nachts nach unten stiegen, nahmen sie manchmal eine dunkle Laterne mit: eine mit einer Klappe, die geschlossen werden konnte, wenn man nicht gesehen werden wollte. Doch solche Laternen waren teuer und sperrig, und Tosher mussten manchmal sehr schnell sein.

Dort unten im Dunkeln gab es nicht nur gute, ehrliche Tosher, o nein! Natürlich musste man mit Ratten rechnen, denn immerhin war die Kanalisation ihr Zuhause. Sie waren nicht gerade versessen darauf, einem zu begegnen, und man wollte ihnen nicht über den Weg laufen, aber nach den Ratten kamen die Rattenfänger, die die Tiere für Hundekämpfe einfingen.

Und dann gab es da noch wahrhaft Schreckliches …

An vielen Stellen in der Stadt war die Kanalisation offen und oberirdisch, und manche Abwasserkanäle versuchten sich dort als Flüsse auszugeben. Das hieß: Was zu schwimmen oder zu rollen imstande war, konnte mitten in der Nacht hineingeraten, ob freiwillig oder nicht, und darin festsitzen. Ein vernünftiger Tosher hielt sich von solchen Gegenden fern, aber es gab andere Leute, die die Abgeschiedenheit der Kanalisation für eigene Zwecke nutzten. Leute, denen nicht unbedingt daran lag, Toshern Grässliches anzutun, die sich aber durchaus dazu hinreißen ließen, wenn sie in der richtigen Stimmung waren, nur aus Spaß.

Sie lachten gern …

Dodgers Gedanken kehrten zu Marie Jos Begegnung mit dem Fremden zurück. Jemand, der wie ein Anwalt aussah, erkundigte sich nach jemandem namens Dodger. Und Marie Jo war eine schlaue, gerissene Frau; andernfalls hätte sie nicht überlebt.

Diese Gedanken breiteten sich wie die auflaufende Flut (immer ein Ärgernis für Tosher in der Nähe der Themse) in seinem Gehirn aus. Und eine Antwort präsentierte sich ihm.

Dies war sein Reich. Er kannte jeden einzelnen Abwasserkanal, den Atem der Stadt, alle kleinen Schlupflöcher, die man nur dann sah, wenn man wusste, wohin es zu sehen galt, die halb abgetrennten Winkel und Ecken, die allen anderen verborgen blieben. Ganz ehrlich, er fand sich allein anhand der Gerüche zurecht und wusste genau, wo er sich gerade aufhielt. Wenn jemand nach mir sucht, dachte er, wenn ich gegen jemanden kämpfen muss, dann in meinem Revier. Ich bin Dodger – hier unten werde ich mit allem fertig.

Derzeit war die Luft im Tunnel mehr oder weniger süß – im Vergleich zu den Dingen, die alles andere als süß waren, mit der möglichen Ausnahme von Onan, der natürlich seine eigenen Gerüche mitgebracht hatte. Dodger stieß den aus zwei Tönen bestehenden Pfiff aus, den jeder Tosher kannte, und horchte auf eine Antwort. Es blieb still – derzeit hatte er diesen Bereich ganz für sich allein.

Innerhalb weniger Meter fand er eine Krawattennadel und einen Viertelpenny. Das Glück begleitete ihn, und er fragte sich, ob dies an seiner jüngsten guten Tat lag. Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, schnüffelte Onan plötzlich bei einem halb umgestürzten Haufen alter Backsteine herum und winselte. Dodger hörte ein Klink, als Onans Schnauze etwas berührte. Wenige Sekunden später hatte der Hund etwas Goldenes im Mauclass="underline" einen Ring mit einem großen Edelstein. Mindestens einen Sovereign wert.

Guter alter Onan! Und ein Dank an die Lady. Nun, etwas geschah oder geschah nicht – das war alles, wie Dodger wusste. Man konnte sich um den Verstand bringen, wenn man es anders sah.

In der Düsternis, bei der Suche in den Tunneln, den Geräuschen der Welt über ihm lauschend, war Dodger in seinem Element und glücklich.

Was man von gewissen anderen Leuten nicht behaupten konnte …

Es brannten viele Kerzen in diesem Raum, aber keine von ihnen erhellte das Gesicht des Mannes, der beim Wandteppich saß. Das beunruhigte den anderen Mann, den seine besonderen Kunden unter dem Namen Schlauer Bob kannten – einem Namen, den er bei gewöhnlichen, legalen Geschäften gewiss nicht benutzte. Eigentlich wollte er seine Auftraggeber immer sehen. Andererseits liebte er auch Goldmünzen, und ihr Anblick beunruhigte ihn nicht im Geringsten, sondern erfreute ihn ganz im Gegenteil. Jetzt lagen zwei dieser Münzen auf einem niedrigen Tisch – eine Lampe zeigte sie ihm, wie sie im Lichtschein glänzten. Er hatte sie noch nicht an sich genommen, weil er dachte: Wenn ich danach greife, bevor mich diese unglaublich vornehme Stimme dazu auffordert, kriege ich zweifellos was auf die Hand, und vielleicht nicht nur darauf.

Die Örtlichkeit gefiel ihm nicht. Es gefiel ihm nicht, einige Zeit mit verbundenen Augen in einer klappernden Kutsche sitzen zu müssen, in Gesellschaft eines Mannes, der mit ausländischem Akzent sprach und ihn unmissverständlich darauf hingewiesen hatte, dass es unangenehme Folgen für ihn hätte, wenn er die Augenbinde abzunehmen versuchte. Letztendlich behagte es ihm auch nicht, für Leute mit ausländischem Akzent zu arbeiten. Denen konnte man nicht trauen. Besser waren Geschäfte mit guten, ehrlichen, gottesfürchtigen Engländern – der Schlaue Bob wusste, wie man mit ihnen zurechtkam. Es hatte ihm auch nicht gefallen, dass die Kutsche immer wieder neue Richtungen eingeschlagen hatte, wie ein Dieb auf der Flucht. Und noch weniger gefiel es ihm, dass ihn nach diesem Gespräch eine weitere derartige Fahrt erwartete.

Dies war eine vornehme Örtlichkeit, so viel stand fest; hier roch es sogar vornehm. Gelegentlich kamen Leute an ihm vorbei, und das ärgerte ihn, denn er wagte den Kopf nicht zu wenden. Ihm wurde unheimlich zumute. Seit zehn Minuten wartete er darauf, dass der Mann im Dunkeln etwas sagte. Wortlos war der Fremde an ihm vorbeigegangen und hatte auf einem gepolsterten Stuhl Platz genommen, der ebenso wie er selbst ein Schatten innerhalb von Schatten blieb. Nur das leise Knarren von Leder hatte darauf hingewiesen, dass sich dort jemand hinsetzte, ein Knarren, wie man es nur von besonders gutem Leder erwarten durfte. Der Schlaue Bob erkannte einen guten Stuhl, sobald er ihn hörte, denn er war schon des Öfteren in den Häusern der Mächtigen gewesen, wenn auch aus anderem Anlass.

Jetzt bewegte sich etwas, und der Mann hinter den Kerzenflammen, der nicht gesehen werden wollte, hob zu sprechen an. Was den Schlauen Bob erstaunlicherweise nicht erleichterte, sondern nur noch mehr beunruhigte. Er hatte das schreckliche Gefühl, früher oder später seine Blase entleeren zu müssen.

Das hätte er fast getan, als plötzlich die Stimme des Fremden zu hören war. »Also, Mister Schlauer Robert, wenn ich mich recht entsinne, versicherten uns Ihre Männer, dass sie mit einer einfachen jungen Frau problemlos fertigwürden. Und doch, so scheint es, ist Ihnen die Betreffende zweimal entkommen, und nur einmal haben Sie es geschafft, sie einzufangen. Das ist, mit Verlaub, keine besonders gute Leistung, oder irre ich mich?«

Beim Klang der Stimme stieg die innere Unruhe des Schlauen Bob noch weiter an. Der Mann sprach Englisch, aber es war kein richtiges Englisch, sondern ein Englisch, das ein Ausländer fehlerfrei erlernt hatte, allerdings ohne die vielen kleinen Eigenheiten, die zum Sprachgebrauch eines Einheimischen gehörten. Es war zu gutes Englisch. Zu makellos, ohne die Fehler und Mängel, die Muttersprachler in ihre Konversation einstreuten. Der Schlaue Bob saß in seiner Lache der Dunkelheit – und derzeit war es glücklicherweise noch die einzige Lache – und entgegnete: »Nun, Sir, wir hatten eine mehr oder weniger hilflose junge Dame erwartet, aber sie konnte verdammt fest zuschlagen, Sir, fest genug, um einen meiner Jungs ins Reich der Träume zu schicken. Und er ist ein Boxer, Sir! Sie war schnell und schlau, Sir, kämpfte wie wild, Sir, und Sie haben ja gesagt, dass Sie sie heil zurück aufs Schiff wollten. Leider wollten auch meine Jungs in einem Stück heimkehren. Mit einer solchen Frau hätten sie es nie zuvor zu tun gehabt, meinten sie, wie sie trat und spuckte und schlug, aber so richtig, und einer meiner Jungs geht jetzt schief und hat ein blaues Auge, und ein anderer hat zwei gebrochene Finger. Ich meine, das erste Mal hat sie uns überrascht, aber dabei lief sie nur weg, und meine Leute konnten sie einfangen und in der Kutsche fesseln. Dadurch waren wir natürlich zu spät fürs Schiff, und deshalb wollten wir sie zu Ihnen bringen.«