Etwas später saß Dodger am langen Tisch im Büro des Chronicle-Herausgebers und wünschte sich, endlich unterwegs zu sein, um Simplicity zu besuchen. Ihm gegenüber saß Charlie, der nicht mehr so erzürnt wirkte, denn als vermögender Mann hatte er sich eine neue Hose besorgt und die andere weggegeben, damit sie gereinigt wurde. Die Innenwand des Büros war nur halbhoch, und die Vorbeigehenden konnten sehen, was auf dieser Seite vor sich ging. Es kamen alle vorbei, und sie blieben auch stehen. Jeder Schreiber und jeder Drucker fand irgendeinen Vorwand, um einen Blick auf den jungen Mann zu werfen, der dem magischen Straßentelegrafen zufolge den schrecklichen Teufelsfriseur der Fleet Street überwältigt hatte.
Allmählich ärgerte sich Dodger. »Ich hab ihn kaum berührt, ihn nur ein bisschen nach unten gedrückt und ihm das Messer abgenommen, das war alles. Ehrlich! Es war, als hätte er Opium genommen oder so, denn er sah tote Soldaten, tote Männer, die sich näherten, ich schwöre, und er sprach mit ihnen, als täte es ihm leid, dass er sie nicht retten konnte. Das ist die reine Wahrheit, Mister Charlie, ich schwöre, und zum Schluss hab ich die toten Soldaten ebenfalls gesehen. In Fetzen gerissene Männer. Und schlimmer noch: halb in Fetzen gerissene Männer, die schrien. Er ist kein Teufel, Sir, obwohl ich glaube, dass er vielleicht die Hölle gesehen hat, und ich bin kein Held, Sir, wirklich nicht. Er war nicht böse, sondern verrückt und traurig, seinem Wahnsinn im Kopf ausgeliefert. Das ist alles, Sir, im Großen und Ganzen, Sir. Und es ist die Wahrheit, die Sie aufschreiben sollten, Sir. Ich meine, ich bin kein Held, weil ich nicht glaube, dass er ein Schurke ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Es folgte eine Stille in dem sauberen kleinen Raum, die nur von Charlies Blick durchdrungen wurde. Eine Uhr tickte, und Dodger wusste, ohne hinzusehen, dass die Angestellten ihm, dem bescheidenen und widerstrebenden Helden der Stunde, noch immer Blicke zuwarfen. Charlie starrte ihn an und drehte dabei seinen Stift hin und her. Schließlich seufzte er und sagte: »Mein lieber Dodger, die Wahrheit ist keine eindeutige Tatsache, sondern sie wird konstruiert, vergleichbar mit dem Himmel. Wir Journalisten, die wir darüber schreiben, müssen die Wahrheit destillieren, damit die ganz und gar nicht gottähnlichen Menschen sie verstehen. In diesem Sinn sind alle Menschen Journalisten, denn sie schreiben in ihren Köpfen, was sie hören und sehen, ohne darauf zu achten, dass ihr Gegenüber das Geschehen vielleicht ganz anders sieht. Das sind Heil und Verdammnis des Journalismus – die Erkenntnis, dass es fast immer verschiedene Perspektiven gibt, aus denen man Ereignisse betrachten kann.«
Charlie drehte seinen Stift noch etwas schneller, schien sich in seiner Haut nicht ganz wohlzufühlen und fuhr fort: »Wer bist du eigentlich, Dodger? Ein tapferer junger Mann, aufgeweckt und schneidig und offenbar ohne Furcht? Oder vielleicht, wie ich vermute, ein Straßenjunge mit reichlich Bauernschläue und dem Glück von Beelzebub höchstpersönlich? Ich nehme an, dass du beides bist und auch alle Schattierungen dazwischen aufweist. Und Mister Todd? Er ist ein wahrhaftiger Teufel – die sechs Toten in seinem Keller weisen deutlich darauf hin. Oder ist er vielleicht ein Opfer, wie du zu glauben scheinst? Wo liegt die Wahrheit?, könntest du fragen, wenn du Gelegenheit zum Sprechen hättest, die ich dir derzeit aber nicht gebe. Meine Antwort würde lauten: Die Wahrheit ist ein Nebel, in dem der eine Mensch die himmlischen Heerscharen sieht und der andere einen fliegenden Elefanten.«
Dodger wollte protestieren. Er hatte keine himmlischen Heerscharen gesehen und auch keinen Elefanten – er wusste nicht einmal, was ein Elefant war –, doch er wäre bereit gewesen, einen Shilling darauf zu wetten, dass Solomon bei seinen Reisen beides gesehen hatte.
Charlie sprach noch immer. »Die Peeler haben einen jungen Mann gesehen, der mutig einem bewaffneten Mörder entgegentrat, und derzeit ist das die Wahrheit, die wir drucken und feiern sollten. Allerdings werde ich auch eine andere Perspektive hinzufügen – sagen wir: eine kleine Prise davon – und berichten, dass der Held der Stunde Mitleid mit dem schrecklichen Mörder hatte und glaubte, dass er wegen der in den letzten Kriegen erlebten grässlichen Erlebnisse verrückt geworden sei. Ich werde schreiben, wie sehr du mir gegenüber betont hast, dass Mister Todd selbst ein Kriegsopfer ist, so wie die Toten in seinem Keller. Ich werde deine Ansicht den Obrigkeiten mitteilen. Der Krieg ist eine schreckliche Sache, und viele kehren mit Wunden heim, die für das Auge unsichtbar bleiben.«
»Das ist sehr schlau von Ihnen, Mister Charlie, die Welt mit ein paar Worten auf Papier zu verändern.«
Charlie seufzte. »Wohl eher nicht. Man wird Sweeney Todd entweder hängen oder nach Bedlam schicken. Wenn er Pech hat – und ich glaube nicht, dass er genug Geld besitzt, um sich dort einen angenehmen Aufenthalt zu kaufen –, kommt er nach Bedlam. Übrigens, ich wäre dir dankbar, wenn du dich morgen beim Punch einfinden könntest, damit unser Zeichner Mister Tenniel dein Konterfei zu Papier bringt.«
Dodger versuchte, alles Gehörte zu verarbeiten. »Was meinen Sie mit Punch, Mister Charlie? Ist das was Schlimmes?«
»Ob das was Schlimmes ist? Oh, Satire kann schlimm sein; auch hierbei kommt es auf die Perspektive an. Der Punch ist ein Magazin für Politik, Literatur und Humor, womit etwas gemeint ist, das einen zum Lachen und manchmal auch zum Nachdenken anregt. Zu den Gründern zählt unser gemeinsamer Bekannter Mister Mayhew.« Charlie zögerte und schrieb dann rasch einige Worte auf das vor ihm liegende Papier. »Geh jetzt, viel Spaß und kehr morgen so früh wie möglich hierher zurück!«
»Äh, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, Sir, ich habe ohnehin noch einen Termin«, sagte Dodger.
»Du hast einen Termin, Dodger? Meine Güte, mir scheint, du wirst wirklich ein Mann von Welt!«
Dodger machte sich auf den Weg und überlegte dabei, wie Charlie seine letzten Worte gemeint haben könnte. Er nahm sich vor, es so bald wie möglich herauszufinden, nur für alle Fälle.
8
Ein junger Mann geht mit seiner jungen Dame spazieren, und Missus Sharples bleibt ihnen auf den Fersen
Dodger beeilte sich auf dem Weg zum Haus der Mayhews, und irgendwie musste er dabei an das Kasperletheater mit Mister Punch[4] denken, an die Puppe mit dem fröhlichen Gesicht und der krummen Nase, an den Kasper, der seine Frau und auch den Polizisten schlug und außerdem das Baby wegwarf. Trotzdem lachten die Kinder über ihn. Warum sollte so etwas komisch sein?, fragte sich Dodger. War das überhaupt komisch? Seit siebzehn Jahren lebte er auf der Straße und wusste, dass dort das wirkliche Leben stattfand, ob komisch oder nicht. Wenn Menschen tief genug sanken, staute sich manchmal solcher Zorn in ihnen an, dass sie schlugen: die Frau, das Kind … Zum Schluss versuchten sie sogar, ihren Henker zu schlagen, was ihnen natürlich nie gelang. Trotzdem lachten die Kinder über Mister Punch. Simplicity allerdings lachte nicht …
Dodger ging noch schneller, er rannte fast und erreichte das Haus der Mayhews zu einem Zeitpunkt, als man, nach Londons Glocken zu urteilen, gerade mit dem Mittagessen fertig sein sollte. Er kam sich ziemlich kühn vor, als er zur Vordertür ging – immerhin war er ein junger Gentleman mit einem Termin – und läutete. Kurz darauf wich er zurück, als die Tür von Missus Sharples geöffnet wurde, die ihn mit einem Blick durchbohrte, der aus reinem Hass bestand, und keine Antwort von ihm bekommen konnte, weil sie die Tür wieder zuwarf.
4
Der Name