Disraeli wirkte wie ein Mann, dessen Füße brannten und dem gerade jemand einen Eimer Wasser reichte. »Ich nehme an, du meinst Angela.«
»Aber natürlich.« Charlie wandte sich an Dodger, der wie ein Wächter neben Simplicity stand, bereit, sie gegen alles und jeden zu verteidigen. »Wir haben eine nützliche Freundin, die gewiss bereit ist, Miss Simplicity Obdach und auch Sicherheit zu gewähren. Ich bin mir völlig sicher, dass sie der Situation gewachsen ist, denn ich halte sie für eine Frau, die sich nie darum scheren muss, was Politiker und selbst Könige denken. Mit der Kutsche könnten wir in einer Stunde bei ihr sein. Ich begleite Miss Simplicity und den jungen Mann, um alles zu erklären.«
»Woher soll ich wissen, ob ich dir trauen kann, Charlie, selbst wenn jene geheimnisvolle Frau Vertrauen verdient?«, fragte Dodger.
»Nun«, erwiderte Charlie, »in mancher Hinsicht kannst du mir wahrscheinlich nicht trauen. Ich habe dir die Wahrheit gesagt, und die Wahrheit ist ein Nebel, wie du weißt. Aber hältst du es wirklich, wirklich für möglich, dass ich bei dieser Angelegenheit nicht vertrauenswürdig bin? Wohin willst du diese junge Dame sonst bringen? In die Kanalisation?«
Bevor einer der Anwesenden ein weiteres Wort äußern konnte, erhob sich Simplicitys laute, feste Stimme. »Ich traue dir, Dodger. Vielleicht solltest du ebenfalls ein wenig Vertrauen haben.«
Beim Parlamentsgebäude standen immer Kutschen bereit, und bald waren sie nach Westen unterwegs, soweit Dodger das feststellen konnte.
Sie fuhren schweigend dahin, bis Simplicity sagte: »Mister Dickens, Ihr junger Freund Mister Disraeli gefällt mir nicht sonderlich. Er glaubt bei jeder Frage zwei Seiten zu sehen. Er schwebt gewissermaßen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Bei ihm ist alles wie … wie ein Kleidungsstück, das man ausschüttelt und wieder anzieht. Und meine Mutter sagte immer, solche Leute seien zwar unschuldig, aber gefährlich.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Ich bitte um Entschuldigung, aber ich glaube, meine Worte entsprechen der Wahrheit.«
Charlie seufzte. »Die Politik dürfte zu dem Zweck erfunden worden sein, Kriege zu verhindern, und in dieser Hinsicht sind Politiker nützlich, meistens. Mehr ist leider nicht anzuführen, soweit ich das sehe. Allerdings sind Ben aufgrund seiner Stellung oftmals die Hände gebunden, und bei einigen Vorkommnissen möchte er nicht, dass seine Beteiligung daran bekannt wird. Es mag euch beide überraschen, dass sich in unserem Land Agenten fremder Staaten herumtreiben, so wie wir Leute losschicken, die sich in anderen Ländern für uns umsehen und umhorchen. Beide Seiten wissen davon, und seltsamerweise tragen auch diese Aktivitäten dazu bei, dass der Frieden erhalten bleibt. Wenn allerdings Könige und Königinnen bedroht sind«, fügte Charlie hinzu, »kann ein Bauer gewinnen.«
Das alles war neu für Dodger, und er fragte: »Wir spionieren also ständig unsere Feinde aus?«
Leises Lachen erklang in der dunklen Kutsche. »Im Allgemeinen nicht, Dodger, denn wir wissen, was unsere Feinde denken; es sind unsere Freunde, vor denen wir auf der Hut sein müssen. Man kann es mit einer Wippe vergleichen. An einem Tag sind unsere Feinde vielleicht unsere Freunde, und am nächsten werden unsere Freunde zu Feinden. Oh, alle wissen von den Agenten. Die Agenten wissen von den Agenten. Ehrlich gestanden bin ich nicht sicher, was Diplomatie in dieser Hinsicht ausrichten kann. Simplicity bekäme zweifellos die Erlaubnis, hier in England zu leben, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass die Angelegenheit damit erledigt wäre, denn die andere Regierung scheint auf Betreiben ihres Schwiegervaters sehr hartnäckig zu sein. Vielleicht könnten wir sie auf ein Schiff nach Amerika oder vielleicht nach Australien schmuggeln, doch ich fürchte, diese Möglichkeit ziehe ich allenfalls als Romanschriftsteller in Betracht.«
»Amerika?«, entfuhr es Dodger. »Davon habe ich gehört. Dort wimmelt es von Wilden. Keinesfalls darf Simplicity dorthingeschickt werden! Sie hätte überhaupt keine Freunde! Und was Australien betrifft … Darüber weiß ich nicht viel, aber Solomon hat mir erzählt, dass dieses Land auf der anderen Seite der Welt liegt. Und das bedeutet meiner Meinung nach, dass die Leute dort auf dem Kopf gehen. Selbst wenn wir sie auf ein Schiff brächten, es bliebe nicht unbemerkt, wie dir sicher klar ist, Charlie. Es gibt Leute, die alles beobachten, was im Hafen geschieht. Ich war einer von ihnen.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass wir sie gut verkleiden könnten«, wandte Charlie ein. »Oder wir halten uns bedeckt und warten ab, bis der Schwiegervater einen Schlaganfall erleidet. Nach allem, was Disraeli herausgefunden hat, lässt sich mit dem recht unangenehmen Sohn leichter fertigwerden.«
Dodger hörte aufmerksam zu. Simplicity war mitleidlos zusammengeschlagen worden, und anschließend war sie sehr schwach gewesen. Auf diese Weise hatte er immer an sie gedacht, aber plötzlich regte sich eine dunkle Erinnerung in ihm. »Charlie«, sagte er, »jemand hat mir einmal von den Römern erzählt, die die Kanalisation gebaut haben. Damals gab es eine Frau, die Jagd auf die Römer machte, mit Streitwagen, deren Räder Klingen hatten und ihnen die Beine abschnitten. Du kennst dich doch gut mit Büchern aus … Weißt du, wie die Frau hieß?«
»Boudicca«, antwortete Charlie. »Und ich glaube, ich verstehe, worauf du hinauswillst. Miss Simplicity ist eine junge Frau, die weiß, was sie will. Sie sollte nicht gezwungen sein, vor ihren Gegnern wegzulaufen.«
Die Kutsche wurde langsamer und blieb vor einem sehr großen und sehr hell erleuchteten Haus stehen. Charlie klopfte an, und ein Butler öffnete. Einige Worte wurden geflüstert, und kurze Zeit später warteten Dodger und Simplicity in einem hübschen kleinen Zimmer, während Charlie mit dem Butler davoneilte, der offenbar Geoffrey hieß.
Kaum eine Minute war vergangen, als Charlie in Begleitung einer Lady zurückkehrte, die er als Miss Angela Burdett-Coutts vorstellte. Sie schien recht jung zu sein, fand Dodger, kleidete sich aber wie eine ältere Frau, und ein Blick in ihr Gesicht genügte, um Dodger einen messerscharfen Verstand zu verraten. Es war wie bei Charlie. Er wusste sofort, dass er dieser Frau gegenüber ehrlich sein musste oder besser schweigen sollte. Sie sah aus wie eine Person, die sich durchzusetzen verstand und bei Auseinandersetzungen immer gewann.
Sie streckte die Hand aus. »Sie müssen Simplicity sein, meine Liebe, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.« Sie wandte sich an Dodger. »Und Sie sind der Held der Fleet Street. Charlie hat mir von Ihren Taten beim Chronicle erzählt. Alle reden über Ihre Unerschrockenheit heute Morgen. Glauben Sie mir: Ich weiß, was vor sich geht – die Menschen können sehr mitteilsam sein. Zunächst einmal kommt es darauf an, dass dieses Mädchen …«, Angela korrigierte sich, »… ich meine, dass diese junge Frau eine Mahlzeit und die Möglichkeit erhält, in einem warmen und vor allem sicheren Bett zu schlafen.« Sie fügte hinzu: »Ohne meine Erlaubnis betritt niemand dieses Haus, und jeder Eindringling mit bösen Absichten würde sich wünschen, nie geboren zu sein – oder dass ich nie geboren wäre. Simplicity ist herzlich willkommen … als Tochter einer alten Freundin aus diesem Land, und sie bleibt bei mir, bis sie gelernt hat, in dieser sündhaften Stadt zurechtzukommen. Ich bin sicher, dass Sie, Mister Dodger, reichlich zu tun haben. Helden sind immer beschäftigt, habe ich herausgefunden, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie morgen Abend an meiner Dinnerparty teilnehmen könnten.«