Der Arzt warf Dodger einen weiteren finsteren Blick zu und eilte die Treppe hinunter. Ja, wenn man auf der Straße lebte, musste man wissen, wie man ein Gesicht las, kein Zweifel. Inzwischen hatte Dodger Charlies Gesicht zweimal gelesen und wusste daher, dass Charlie den Doktor nicht sonderlich mochte, vielleicht ebenso wenig, wie der Doktor Dodger mochte, und seinem Ton war zu entnehmen, dass Charlie gutem Essen und Wasser mehr vertraute als Gott – einer Person, die Dodger nur vom Hörensagen kannte und über die er fast nichts wusste. Mit der Ausnahme vielleicht, dass Gott viel mit reichen Leuten zu tun hatte. Das klammerte praktisch alle Menschen aus, die Dodger kannte, abgesehen von Solomon, der oft mit Gott verhandelt hatte und ihm gelegentlich einen Rat erteilte.
Als die Leibesfülle des Doktors nicht mehr übermäßig viel Platz in dem kleinen Zimmer beanspruchte, konnte Dodger die junge Frau besser sehen. Er schätzte ihr Alter auf nicht mehr als sechzehn oder siebzehn, obwohl sie älter aussah, was bei Zusammengeschlagenen immer der Fall war. Sie atmete langsam, und er sah einen Teil ihres Haars, das ihm wie Gold erschien. Spontan sagte er: »Nichts für ungut, Mister Charlie, aber hätten Sie was dagegen, wenn ich bis morgen früh über die Dame wache? Natürlich rühre ich sie in keiner Weise an, und ich habe sie wirklich noch nie gesehen, ich schwör’s. Ich weiß nicht warum, aber ich würde gern ein wenig auf sie aufpassen.«
Die Haushälterin kam herein, und der Blick, mit dem sie Dodger maß, bestand aus reinem Hass. Der zweite Blick, der Charlie galt, war glücklicherweise freundlicher. Sie hatte fast so etwas wie einen Schnurrbart, und darunter brummte es. »Ich will nicht vorlaut sein, Sir. Ich habe nichts dagegen, sozusagen eine weitere Weide des Sturms im Haus zu haben, aber für dieses Schmuddelkind übernehme ich keine Verantwortung, wenn Sie gestatten. Ich hoffe, mir macht niemand Vorhaltungen, wenn er Sie heute Nacht alle in Ihren Betten ermordet. Womit ich natürlich niemandem zu nahe treten möchte.«
An solche Leute war Dodger gewöhnt. Leute wie diese dumme Frau hielten jedes Straßenkind für einen Dieb, der einem innerhalb eines Sekundenbruchteils die Schnürsenkel aus den Stiefeln stahl und sie einem dann zum Kauf anbot. Er seufzte innerlich. Natürlich traf das auf die meisten von ihnen zu – auf fast alle, um ganz ehrlich zu sein –, aber das war noch lange kein Grund für solche pauschalen Anschuldigungen. Dodger war kein Dieb, ganz und gar nicht. Er war … Nun, er verstand sich gut darauf, Dinge zu finden. Immerhin fiel manchmal etwas von Karren und Kutschen, oder? Er hatte nie die Hand in eine fremde Hosentasche gesteckt. Abgesehen vielleicht von zwei oder drei Gelegenheiten, bei denen die Taschen so weit aufklafften, dass etwas herausfallen musste. Dodger war einfach nur rechtzeitig zur Stelle gewesen, um es aufzufangen, bevor es zu Boden fallen konnte. Von Stehlen konnte keine Rede sein. Nein, er half, die Straße sauber zu halten, und außerdem passierte es nur … wie oft? Ein- oder zweimal die Woche? Es war eine Form der Reinlichkeit, doch gewisse kurzsichtige Menschen mochten dennoch auf den Gedanken verfallen, einen dafür zu hängen – aufgrund eines Missverständnisses. Aber sie bekamen nie Gelegenheit, Dodger misszuverstehen, o nein, denn er war schnell und mit allen Wassern gewaschen und bestimmt viel gerissener als die dumme alte Frau, die die Worte durcheinandergebracht hatte. Überhaupt, was war eine Weide des Sturms? Wie brachte man sie ins Haus, und welche Tiere grasten darauf? Das war doch bescheuert! Aber vielleicht wurde man bescheuert, wenn man in einem solchen Haus arbeitete. Was Dodger betraf … er mied die sogenannte Arbeit. Ganz anders sah es natürlich mit dem Toshen aus. Oh, wie sehr er das liebte! Das Toshen war keine Arbeit, sondern ein Lebensstil – oder mehr noch: das Leben selbst. Hätte er nicht diesen dämlichen Fehler begangen, wäre er jetzt in der Kanalisation, um dort das Ende des Gewitters abzuwarten. Nach einem solchen Regenguss öffnete sich eine ganze Welt von Möglichkeiten. Er war gern dort unten unterwegs, aber im Augenblick lag Charlies Hand fest auf seiner Schulter.
»Höre dies, mein Freund: Diese Frau hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn du hier Dschingis Khan spielst und ich davon erfahre, setze ich gewisse mir bekannte Leute auf dich an. Verstanden? Und ich werde eine Waffe schwingen, die sich Dschingis Khan nie erträumt hätte, und sie wird genau auf dich zielen, mein Freund. Nun muss ich diese arme junge Dame deiner Obhut und dich der Aufsicht von Missus Sharples überlassen, von deren Wort dein Leben abhängt.« Charlie lächelte und fuhr fort: »Weide des Sturms – nicht schlecht. Das werde ich mir notieren.« Zur Überraschung von Dodger und wahrscheinlich auch von Missus Sharples holte Charlie ein sehr kleines Notizbuch hervor und kritzelte etwas mit einem sehr kurzen Stift hinein.
In den Augen der Haushälterin glänzte freudige Boshaftigkeit, als sie Dodger ansah. »Sie können mir vertrauen, Sir, jawohl, das können Sie. Wenn dieser Bursche irgendwelche Mätzchen macht, bringe ich ihn sofort aus dem Haus und zur Polizei.« Dann schrie sie und wies nach unten. »Er hat ihr schon was gestohlen, Sir, sehen Sie nur!«
Dodger erstarrte mit der Hand auf halbem Weg zum Boden. Es folgte ein recht angespannter Augenblick.
»Ah, Missus Sharples, Sie haben in der Tat die Augen von … wie soll ich sagen … Argos Panóptes«, sagte Charlie glatt. »Zufälligerweise habe ich bereits gesehen, was der junge Mann gerade aufheben wollte. Es liegt schon seit einer ganzen Weile neben dem Bett – die junge Dame hat es zuvor in der Hand gehalten. Mister Dodger wollte sicher nur dafür sorgen, dass es niemand übersieht. Bitte gib es mir, Dodger!«
Dodger hatte einen ziemlichen Schreck bekommen, hob den Gegenstand auf und reichte ihn dem Mann. Es handelte sich um ein billiges Kartenspiel, und da er Charlies Blick spürte, verzichtete er darauf, es sich genauer anzusehen.
Charlie ging Dodger ziemlich auf den Geist, und jetzt sagte er: »Ein Kartenspiel für Kinder, Missus Sharples, feucht und recht juvenil für eine junge Dame ihres Alters. Ein Quartett, Glückliche Familie genannt. Ich habe davon gehört.« Er drehte das Kartenspiel hin und her und sagte: »Dies ist ein Rätsel, meine liebe Missus Sharples. Ich möchte es in die Hände von jemandem legen, der Himmel und Erde in Bewegung setzt, um das Geheimnis am Schwanz zu packen und ans Licht zu ziehen. Damit meine ich Mister Dodger.« Er gab das Kartenspiel dem erstaunten Dodger zurück und fügte munter hinzu: »Wage mich nicht zu hintergehen, Dodger! Glaub mir, ich kenne dich in- und auswendig, und was ich gerade gesagt habe, meine ich ernst. So, und jetzt muss ich gehen. Es ist spät genug.«
Dodger glaubte, dass Charlie ihm zuzwinkerte, bevor er das Zimmer verließ.
Die Nacht verging schnell, weil schon ein großer Teil von ihr ins Gestern geschlüpft war. Dodger saß auf dem Boden, lauschte dem langsamen Atmen der jungen Frau und dem Schnarchen von Missus Sharples, die es schaffte, beim Schlafen ein Auge offen zu halten. Der Blick dieses einen Auges blieb die ganze Zeit auf Dodger gerichtet wie eine Kompassnadel, die immerzu nach Norden zeigt. Warum hatte er sich das angetan? Warum fror er hier auf dem Boden? Er hätte doch auch gemütlich an Solomons warmem Ofen liegen können (einer wunderbaren Vorrichtung, mit der sich auch Gold einschmelzen ließ, wenn genug davon vorhanden war).
Die Unbekannte war trotz ihrer Verletzungen schön, und er beobachtete sie, während er die feuchten, schmuddeligen und albernen Karten in seinen Händen hin und her drehte. Er betrachtete das Gesicht, das nur aus Blutergüssen zu bestehen schien. Die Mistkerle hatten sie nach Strich und Faden verprügelt, sie als Boxsack benutzt. Sie hatten Dodgers Brechstange zu spüren bekommen, aber das genügte nicht, nein, bei Gott, das war bei Weitem nicht genug! Er würde sie finden, jawohl, und windelweich schlagen …