Verdrossen ging er weiter und achtete dabei auf Köpfe, die plötzlich verschwanden, kaum dass er sie bemerkte, oder Leute, die ein bisschen zu schnell in eine Gasse traten. So verhielt sich ein Geezer. Ein Geezer wusste, dass sich die meisten Menschen auf der Straße um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, obwohl viele von ihnen die Gelegenheit wahrgenommen hätten, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Wonach Dodger Ausschau hielt, war das suchende, wachsame Auge, das Auge, das die Straße las wie ein Buch.
Derzeit schien die Straße frei zu sein, wenn man das von irgendeiner Straße sagen konnte, und Simplicity war vorerst in Sicherheit, tröstete sich Dodger. Allerdings verlöre sie diese Sicherheit, wenn sie das Haus verließ. Auf der Straße konnte Schreckliches passieren, selbst am helllichten Tag.
Ihm fiel ein, dass er sich vor nicht allzu langer Zeit als Blumenmädchen verkleidet hatte – damals war er jung genug gewesen, damit durchzukommen. Sein Haar hatte hübsch unter einem Kopftuch hervorgelugt, und es war nicht einmal sein eigenes Haar gewesen. Er hatte es sich von Mary Drehdichschnell geliehen, deren blondes Haar wie ein Pilz wuchs und auch so aussah. Aber sie verdiente gutes Geld damit, indem sie es alle paar Monate an die Perückenmacher verkaufte.
Es gab einen guten Grund für die Verkleidung: Die Blumenmädchen, von denen einige gerade erst vier Jahre alt waren, erhielten unerwünschte … Aufmerksamkeit von gewissen Herren. Die Mädchen, die im Frühling Veilchen und Osterblumen verkauften, waren ein anständiger Haufen, und Dodger mochte sie. Wenn sie größer wurden, mussten sie sich natürlich wie alle anderen ihren Lebensunterhalt verdienen, und bei den älteren von ihnen gab es gegen das eine oder andere Techtelmechtel vielleicht nichts einzuwenden, solange sie sowohl das Techtel als auch das Mechtel im Griff hatten. Doch sie wollten auf keinen Fall, dass ihre kleineren Schwestern in ähnliche Verstrickungen gerieten, weshalb sie Dodger um Hilfe baten.
Als sich die gut gekleideten Männer erneut bei den Blumenmädchen nach neuen Blumen umsahen, die sie pflücken und mit alkoholischen Getränken gefügig machen konnten, wurden sie auf diskrete Weise zu einem schüchternen kleinen Mauerblümchen geschickt, das in Wirklichkeit Dodger hieß.
Er musste zugeben, dass er die Rolle ziemlich gut gespielt hatte, denn ein Geezer musste auch ein Schauspieler sein, und so wurde Dodger zu einem besseren Mauerblümchen als die anderen Blumenmädchen, die – wie konnte es anders sein – geeignetere Qualifikationen dafür mitbrachten. Er hatte bereits recht viele seiner Veilchen verkauft, denn zu jener Zeit war er noch nicht im Stimmbruch gewesen und konnte tatsächlich als Jungfräulein durchgehen, wenn er wollte. Nach einigen auf diese Weise verbrachten Stunden erzählten ihm die Mädchen von einem besonders garstigen Burschen, der sich gern bei den Jüngsten von ihnen herumtrieb und gerade mit seinem hübschen Mantel, dem Gehstock und dem Klimpergeld in der Tasche unterwegs war. Und die Straße applaudierte, als ein plötzlich recht athletisches Blumenmädchen den schmierigen Mistkerl packte, ihn schlug und in eine Gasse zerrte, wo es dafür sorgte, dass er für eine Weile nichts mehr in seiner Tasche klimpern ließ.
Das war einer von Dodgers sehr guten Tagen gewesen, denn … Nun, zunächst einmal hatte er eine gute Tat für die Blumenmädchen vollbracht, was ihm gelegentlich einen Kuss und die eine oder andere Schmuserei wie zwischen guten Freunden einbrachte. Außerdem hatte er den Gentleman stöhnend in der Gasse zurückgelassen, nicht nur ohne dessen Unterhose[5], sondern auch ohne: eine Golduhr, eine Guinee, zwei Sovereigns, einige kleinere Münzen und einen Gehstock aus Ebenholz mit silbernem Besatz. Als Bonus kam hinzu, dass sich dieser Mann auf keinen Fall an die Peeler wenden würde. Und: Nach Dodgers bestem Schlag seit langer Zeit hatte der Bursche einen Goldzahn gespuckt. Dodger hatte ihn mitten in der Luft aufgefangen, was ihm zusätzlichen Applaus der Blumenmädchen einbrachte, und für eine Weile fühlte er sich wie der Hahn im Korb. Er hatte mit den älteren Mädchen Austernsuppe gegessen, und es war der beste Tag gewesen, den sich ein junger Mann wünschen konnte. Es lohnte sich immer, eine gute Tat zu vollbringen, obwohl dies vor der Rettung Solomons geschehen war, der gewisse Einzelheiten von Dodgers Handeln nicht gutgeheißen hätte.
Als Dodger praktisch schon zu Hause war, ließ er in seiner Wachsamkeit nach, und plötzlich landete eine Hand auf seiner Schulter. Sie griff erstaunlich fest zu, wenn man bedachte, dass ihr Eigentümer sie vor allem zum Schreiben benutzte.
»Mein lieber Dodger! Du würdest staunen, wie lange es gedauert hat, mit einer Kutsche hierherzugelangen. Und, wenn ich das sagen darf, die Kanalisation war nicht sonderlich freundlich zu deinem Anzug. Gibt es hier in der Nähe ein Kaffeehaus?«
Das bezweifelte Dodger, aber er wies darauf hin, dass man bei einer der Pastetenbuden vielleicht auch Kaffee bekam. »Wie er schmeckt, kann ich nicht sagen«, fügte er hinzu. »Ein bisschen wie die Pasteten, nehme ich an. Ich meine, um dort zu essen, muss man wirklich sehr hungrig sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
Schließlich führte er Charlie zu einem Pub, wo sie miteinander reden konnten, wo ihnen niemand zuhörte und wo sich kaum ein Taschendieb an Charlie heranmachte. Als Dodger eintrat, war er noch mehr Dodger als zuvor: Dodger im Quadrat, ein toffer und taffer Typ, Freund aller Slumbewohner. Er schüttelte dem Wirt namens Quince die Hand, außerdem auch einigen anderen Anwesenden, die einen zweifelhaften Ruf genossen und den Leuten, die alles beobachteten, ausrichten würden, dass dieses Revier Dodger gehörte, ihm allein.
Charlie nahm es hin, denn er wusste sicher: Dies waren die Slums, wo selbst die Peeler Vorsicht walten ließen und nie allein loszogen. Charlie gehörte ebenso wenig hierher wie Dodger ins Parlament – es waren zwei unterschiedliche Welten.
Eigentlich war London gar nicht so groß, wenn man genauer darüber nachdachte: eine Quadratmeile aus Labyrinthen, umgeben von weiteren Straßen, Menschen und … Gelegenheiten. Dann kamen die Außenbezirke und Vororte, die glaubten, Teil von London zu sein, aber das waren sie nicht, zumindest nicht für Dodger. Oh, manchmal verließ er die Quadratmeile – bis zu zwei Meilen weit wagte er sich über ihre Grenzen hinaus! – und schlüpfte dann ganz in die Rolle des Geezers. Er war freundlich zu allen, bei denen sich Freundlichkeit lohnte, und Geezer sprach zu Geezer. Die Geezer der Äußeren Öde, wie Dodger jene Straßen nannte, waren nicht unbedingt Freunde, aber man respektierte ihr Revier in der Hoffnung, dass sie ihrerseits das eigene Territorium respektierten. Man traf eine Vereinbarung mit Blicken, Annahmen und der einen oder anderen Geste, die kaum Worte benötigte. Aber es war alles Schau, ein Spiel … Und wenn er nicht Dodger war, fragte er sich manchmal, wer er sein mochte. Dodger, fand er, war viel stärker als er.
Dann und wann sah ein Gast im Pub zu Charlie herüber, richtete den Blick dann auf Dodger und wandte ihn sofort ab, weil er zu verstehen glaubte. Kein Problem, hab überhaupt nichts gesehen.
Als klar war, dass kein Krieg ausbrach, und als zwei Pints auf den Tisch gestellt worden waren – in sauberen Gläsern, immerhin hatte Dodger einen Gentleman mitgebracht –, sagte Charlie: »Junger Mann, nach unserem Besuch bei Angela bin ich in großer Eile zu meinem Büro zurückgekehrt, und dort habe ich herausgefunden, dass mein Freund Mister Dodger ein sehr reicher Mann ist.« Er beugte sich vor und fügte hinzu: »In meiner Tasche habe ich, sorgfältig eingepackt, damit nichts klimpert, fünfzig Sovereigns und noch ein bisschen Kleingeld obendrein. Es besteht sogar die Aussicht, dass es noch mehr werden könnte.«
Dodger brachte seinen Mund wieder unter Kontrolle und klappte ihn zu. Nach einigen Sekunden flüsterte er: »Aber ich bin kein Held, Charlie.«
5
Ziemlich schmutzig, aber von guter Qualität. Dodger hatte sie anschließend oft getragen, natürlich nach gründlichem Waschen.