Charlie hob den Zeigefinger vor die Lippen. »Sei vorsichtig mit deinem Protest!«, riet er. »Du weißt, wer und was du bist, und ich schätze, ich weiß es ebenfalls, obwohl ich glaube, dass ich großzügiger mit dir bin als du mit dir selbst. Die guten Bürger von London haben dieses Geld einem jungen Mann gespendet, den sie für einen Helden halten. Wer bist du, dass du ihnen den Helden nehmen willst, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass ein Held etwas bewirken kann?«
Dodger sah sich im Pub um. Niemand hörte zu, aber er senkte die Stimme trotzdem. »Und der arme alte Todd ist ein Schurke, wie?«
»Nun«, erwiderte Charlie, »ein Held könnte über den sogenannten Schurken sagen, er sei nichts weiter als ein trauriger, von Kriegserinnerungen gequälter Mensch. Er könnte hinzufügen, dass dieser Mensch nach Bedlam gehört und nicht an den Galgen. Wer könnte einem Helden widersprechen, wenn besagter Held auch noch mit einem Teil seines neuen Reichtums dafür sorgt, dass der arme Mann dort einen einigermaßen erträglichen Aufenthalt hat?«
Dodger stellte sich Sweeney Todd in Bedlam vor, irgendwo eingesperrt mit den Dämonen, die er in sich trug, ohne jede Annehmlichkeit, es sei denn, er bezahlte dafür. Ihm schauderte bei diesem Gedanken, denn ein solches Leben wäre schlimmer gewesen als der Tod am Galgen von Newgate, vor allem, weil sie das mit dem Knoten inzwischen richtig hinbekamen, damit das Genick sofort brach. Es ersparte allen Beteiligten im wahrsten Sinn des Wortes langes Herumhängen – die Freunde des Verurteilten mussten nicht mehr an seinen Beinen ziehen, um ihm zu einem schnellen Tod zu verhelfen. Ein guter Taschendieb, so hieß es, konnte große Beute beim Publikum machen, das ganz auf den Tanz am Strang konzentriert war. Dodger hatte es selbst einmal versucht und durchaus einiges dabei ergattert, aber erstaunlicherweise festgestellt, dass er sich schämte, ein solches Ereignis für die eigene Bereicherung auszunutzen. Daraufhin hatte er sich vom geschickt gestohlenen Geld getrennt und es zwei Bettlern gespendet.
»Niemand wird auf mich hören«, sagte er jetzt.
»Du unterschätzt dich, mein Freund. Und du unterschätzt die Macht der Presse. Schließ den Mund, bevor etwas hineinfliegt, und denk daran, dass du morgen das Büro des Punch-Magazins aufsuchen musst, damit Mister Tenniel dein Gesicht zeichnen kann. Unsere Leser möchten wissen, wie der Held des Tages aussieht.«
Charlie klopfte Dodger auf den Rücken, was er sofort bereute, als seine Hand eine noch immer nasse Stelle von Dodgers Anzug berührte.
»Die Kutsche«, sagte Dodger. »Ich habe sie noch einmal gehört. Und fast hätte ich sie auch gesehen. Ich finde die Kerle, Charlie. Sie werden Simplicity nicht noch einmal etwas antun.«
»Derzeit ist sie bei Angela gut aufgehoben.« Charlie lächelte. »Und ich denke, ich kann Ben noch einen Tag oder etwas länger ruhig halten, während ich weitere Ermittlungen anstelle. Wir sind ein Team, Dodger, ein Team! Das Spiel hat begonnen, und hoffentlich sind wir auf der Gewinnerseite.«
Damit verließ er den Pub und ging in Richtung der nächsten breiten Straße, wo vielleicht eine Kutsche wartete. Er ließ einen Dodger zurück, der mit wieder offenem Mund dastand und ein Vermögen in seiner Tasche trug. Nach einigen Sekunden verbündeten sich die Göttinnen der Realität und der Selbsterhaltung gegen ihn, und ein vermögender junger Mann rannte durch Seven Dials und hämmerte an Solomons Tür.
Er gab das vereinbarte Klopfzeichen und hörte Onans freudiges Bellen, gefolgt von Solomons Pantoffeln, gefolgt von den Geräuschen, die beiseitegeschobene Riegel verursachten. Dodger wusste, dass es im Tower von London – den er nie von innen sehen wollte – eine große Zeremonie der Wärter gab (die manchmal auch Beefeater genannt wurden), wenn sie des Nachts alles verschlossen. Aber wie kompliziert ihre Zeremonie auch sein mochte, vermutlich gingen sie nicht so sorgfältig und akribisch zu Werke wie Solomon, wenn er die Tür öffnete. Schließlich war sie offen.
»Oh, Dodger, bist ein bisschen spät dran. Schon gut, Eintopf ist besser, wenn man ihn länger ziehen lässt. Meine Güte, was hast du mit Jacobs fast neuem Anzug angestellt?«
Dodger zog die Jacke aus und hängte sie an einem Kleiderbügel auf, weil Solomon darauf bestand. Dann wandte er sich langsam um, öffnete die Börse, die Charlie ihm gegeben hatte, und ließ den Inhalt auf Solomons Arbeitstisch klimpern.
Er trat zurück und sagte: »Ich glaube, Jacob wäre mit mir einer Meinung, dass der Anzug derzeit nicht wichtig ist. Außerdem ist allgemein bekannt«, fuhr er fort und lächelte, »dass ein bisschen Pisse Kleidung nicht schadet, und ich denke, mit einem Teil dieses Gelds sollte sich alles in Ordnung bringen lassen, findest du nicht?« Und während der Mund des alten Knaben noch offen stand, fügte Dodger hinzu: »Ich hoffe, du hast noch Platz in deinen Schatullen.«
Und dann, als Solomon nur verdutzt dastand und keinen Ton von sich gab, dachte er, es sei vielleicht besser, sein Vermögen so bald wie möglich an einen anderen Platz zu bringen.
Eine Weile später standen zwei dampfende Teller mit Eintopf auf dem Tisch, und mehrere Säulen aus sorgfältig aufeinandergestapelten Münzen leisteten ihnen Gesellschaft. Sie waren nach ihrem Wert sortiert, von zwei halben Viertelpennys bis hin zu den Guineen und Sovereigns. Solomon und Dodger starrten auf die Stapel, als rechneten sie damit, dass sie irgendein Kunststück vollbrachten oder vielleicht verschwanden und dorthin zurückkehrten, woher sie gekommen waren.
Was Onan betraf … Er blickte bange von einem zum anderen und fragte sich, ob er irgendetwas angestellt hatte, was gewöhnlich der Fall war. Obwohl, bei dieser besonderen Gelegenheit war er bisher frei von Schuld.
Solomon hörte sehr aufmerksam zu, als Dodger von den Ereignissen im Friseurladen und allen anderen Abenteuern berichtete, bis hin zur Dinnerparty-Einladung von Miss Angela und dem gesammelten Geld, das ihm Charlie im Pub überreicht hatte. Manchmal hob der alte Mann den Finger, um eine Frage zu stellen, aber abgesehen davon blieb er still. Schließlich sagte er: »Mmm, es ist nicht deine Schuld, dass die Leute dich einen Helden nennen, aber es macht dir Ehre, dass du Mitleid mit Mister Todd hast und erkennst, welche ungeheuerlichen Erlebnisse ihn zu einem Ungeheuer machten. Dem auf einem Amboss geschmiedeten Eisen kann man nicht den Hammer zur Last legen, und Gott versteht gewiss, dass du den anderen die Situation zu erklären versucht hast. Mmm, ich wusste immer, dass die Menschen auf das Angesicht der Welt die Welt malen, die sie gern sähen. Deshalb erblicken sie manchmal erschlagene Drachen, und wo es Lücken gibt, werden sie von der Phantasie der Menschen gefüllt. Was das Geld angeht … Es dürfte der Versuch der Gesellschaft sein, sich besser zu fühlen. Eine heilsame Aktion mit der begrüßenswerten Nebenwirkung, dass sie dich zu einem reichen jungen Mann macht, der seinen Reichtum zur Bank bringen sollte. Du hast mir von einer Lady namens Angela Burdett-Coutts erzählt. Sie ist in der Tat steinreich, was sie dem überaus umfangreichen Erbe ihres Großvaters verdankt, und es wäre klug von dir, gute Beziehungen zu ihrer Familie zu knüpfen. Ich denke, du solltest dich an Mister Coutts Bank wenden und ihr dein Geld anvertrauen. Dort ist es sicher aufgehoben und bringt Zinsen.«
»Zinsen?«, fragte Dodger.
»Mehr Geld«, erklärte Solomon. »Es ist eine mmm erfreuliche Eigenschaft von viel Geld, dass es sich von allein vermehrt.«
Dodger richtete einen argwöhnischen Blick auf die Münzstapel. »Wie bringt es das zustande?«
Diesmal war das Mmm von Solomon besonders ausdrucksvoll, und er sagte: »In diesem Fall findet die Vermehrung anders statt. Mmm, es ist folgendermaßen. Angenommen, einer dieser neumodischen Eisenbahnleute, nennen wir ihn Mister Stephenson, hat einen Plan für eine wundervolle neue Maschine. Als ein Mann, der sich vor allem mit Bolzen und atmosphärischem Druck befasst, kennt er sich in der Geschäftswelt vielleicht nicht besonders gut aus. Mmm, Mister Coutts und seine Herren finden für ihn Unternehmer – damit bist in diesem Fall du gemeint –, die ihm genug Geld leihen, damit er seinen Plan verwirklichen kann. Mister Coutts schätzt die Vertrauenswürdigkeit eines Mannes ein und sorgt dafür, dass dein Geld sowohl für besagten Ingenieur als auch für dich arbeitet. Natürlich holt man Erkundigungen ein über den Mann mit den glänzenden Augen, den Ölflecken an der Hose und dem ihm anhaftenden Geruch von Kohlenstaub, um festzustellen, ob sich die Investition lohnt, aber Mister Coutts und seine Familie sind sehr reiche Leute, die nicht reich geworden sind, weil sie falsch geraten haben. Man spricht in diesem Zusammenhang von Finanzwirtschaft. Vertrau mir! Ich bin Jude – wir kennen uns mit solchen Dingen aus.«