Dodger sagte zur großen Überraschung der Alten: »Ja, ich bin’s, Missus Beecham, und ich weiß, dass Sie bisher kein Geld im Haus hatten, aber nun haben Sie welches.« Und er überließ ihren verblüfften Händen die Beute.
Es fühlte sich gut an, und die zahnlose Alte strahlte regelrecht in der Dunkelheit und sagte: »Gott segne dich, junger Mann. Morgen früh in der Kirche bete ich für dich.«
Das überraschte Dodger ein wenig – niemand hatte ihm jemals angeboten, für ihn zu beten. Die Vorstellung, dass ein Gebet für ihn gesprochen werden sollte, bescherte ihm willkommene Wärme an diesem kühlen Abend. Er hielt dieses Gefühl fest, als er mit Onan die lange Treppe zur Mansarde hochstieg.
11
Dodger putzt sich heraus, und Solomon bekennt Farbe
Solomon hatte auf ihn gewartet und nicht zum Nachbarschaftspublikum gehört, weil kein Zimmer der Mansarde zur Straße hinaus lag. Durch die Fenster sah man nur einige Lagerhäuser, und Solomon fand diesen Anblick wesentlich erfreulicher als so manches, was man auf der Straße beobachten musste. Sie wechselten in der Dunkelheit nur einige wenige Worte, bevor Dodger auf seine Matratze sank und die Kerze ausgeblasen wurde.
Während er sich in die Decke kuschelte, im wohligen Wissen, einen guten Tag hinter sich zu haben, beobachtete Dodger die eigenen dahinziehenden Gedanken. Kein Wunder, dass sich die Welt drehte – es gab so viele Veränderungen. Wie lange war es her, dass er einen Schrei gehört und aus der schäumenden Kanalisation gesprungen war … wie viele Tage lag das zurück? Er zählte drei Tage. Drei Tage! Die Welt schien sich zu schnell zu bewegen und über Dodger zu lachen, weil er nicht mithalten konnte. Na schön, dann lief er ihr eben hinterher und nahm alles, wie es kam. Am nächsten Tag erwartete ihn eine wundervolle Dinnerparty, bei der er Simplicity wiedersehen würde. Als er langsam in den Schlaf sank, dachte er daran, dass es bei allem in erster Linie auf den Schein ankam, und damit lernte er besser umzugehen. Er schien ein Held zu sein, ein kluger junger Mann, und vertrauenswürdig. Dieser Schein täuschte alle, und am beunruhigendsten war der Umstand, dass er selbst davon getäuscht wurde, dass er allmählich glaubte, ein anderer zu sein oder ein anderer sein zu können. Mit diesem seltsamen Gedanken im Kopf schlief er ein.
Am folgenden Morgen sah sich der Mann, dessen Aufgabe darin bestand, die Tür der Coutts-Bank aufzuschließen, einem älteren jüdischen Herrn gegenüber, der einen verschlissenen Gabardinemantel trug und in dessen Augen geschäftlicher Eifer leuchtete. Diese Erscheinung schob sich an ihm vorbei, gefolgt von einem jungen Mann in einem schlecht sitzenden Anzug sowie einem stinkenden Hund. Einige andere Kunden klagten murmelnd darüber, dass man arme Leute hereinließ, bis sich herausstellte – nachdem alle Münzen über dem Wert von einem Sixpence gezählt und quittiert waren –, dass es sich um arme Leute mit viel Geld handelte.
Eine Empfangsbestätigung und ein hübsches Sparbuch wurden übergeben, und die kleine Gruppe verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das Rote Meer schloss sich, die Planeten sprangen in ihre gewohnten Umlaufbahnen zurück, erstgeborene Kinder spielten wieder, und mit der Welt war alles in Ordnung. Allerdings enthielt ein Teil dieser Welt einen von Mister Coutts Seniorpartnern, dem klar wurde, dass er sich auf einen Zinssatz eingelassen hatte, den die Bank nur selten gewährte, der ihm jedoch als geringer Preis dafür erschienen war, Solomon aus dem Gebäude zu bekommen, bevor jener die Geldverleiher hinausgeworfen hätte. Eine solche Vorstellung war natürlich absurd und in jeder Hinsicht unbegründet, aber beim Feilschen setzte sich Solomon immer durch, und die anderen blieben reichlich benommen zurück.
Kaum hatten die drei die Bank verlassen, erinnerte Dodger Solomon ziemlich widerstrebend daran, dass man ihn im Büro des Punch-Magazins erwartete, damit irgendein Künstler sein Gesicht zeichnen konnte.
Mister Tenniel erwies sich als junger Mann, kaum älter als Dodger, dessen braunes Haar ein wenig ins Rote tendierte. Dodger nahm vor ihm Platz, und sie unterhielten sich, während der Künstler zeichnete. Es war gar nicht so schwierig, von Mister Tenniel gezeichnet zu werden, aber es konnte manchmal recht beunruhigend sein, denn Mister Tenniel zeichnete und zeichnete mit seinem Stift, und dann warf er Dodger plötzlich einen Blick zu, der ihn regelrecht durchbohrte – der ihn festheftete wie einen Schmetterling –, und dann zeichnete er weiter. Nur der obere Teil seines Kopfs war zu sehen, wenn er sich über die Arbeit beugte. Unterdessen trank Solomon Kaffee und blätterte in einer Ausgabe des Punch-Magazins, das man ihm freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte.
Dodger staunte, dass es gar nicht so lange dauerte, ihn zu zeichnen. Mister Tenniel nahm noch einige Korrekturen an dem Bild auf seiner Staffelei vor und drehte es dann mit einem Lächeln zu Dodger hin. »Ich bin sehr zufrieden damit, Mister … Darf ich Sie Dodger nennen? Ich glaube, ich habe das Wesentliche Ihrer Persönlichkeit gut eingefangen. Natürlich muss ich noch einige Details hinzufügen, damit die Leser einen Eindruck des Geschehens in dem Friseursalon gewinnen. Und ich muss auch Mister Sweeney Todd zeichnen, denn die Leute wollen beides, den Helden und den Schurken.«
Dodger schluckte. »Aber Mister Todd war eigentlich gar kein Schurke …«, begann er.
Tenniel unterbrach ihn, indem er mit seinem Stift winkte. »Talavera soll richtig schlimm gewesen sein, wie ich hörte. Es heißt, Wellington schickte seine Männer einfach ins gegnerische Kanonenfeuer, einen nach dem anderen, wodurch es zu großen Verlusten kam. Man kann nur hoffen, dass alle diese Toten das Opfer wert waren, wenn so etwas überhaupt möglich ist.« Er schüttelte Dodger die Hand und fuhr fort: »Mister Dickens hat mir erzählt, was in der Fleet Street passierte, und es ist doch bemerkenswert, wie sehr die Wahrnehmung der Wahrheit in der Öffentlichkeit seit einiger Zeit zum Makabren neigt, nicht wahr? Der gewöhnliche Bürger, so scheint es, liebt nichts mehr als einen grausigen Mord.« Er zögerte und fügte hinzu: »Stimmt irgendetwas nicht, Mister Dodger?«
Tenniel hatte Dodger beim Zeichnen immer wieder sehr aufmerksam gemustert, und der hatte die Gelegenheit genutzt, sein Gegenüber ebenfalls zu beobachten. Dabei war ihm etwas aufgefallen – etwas schien nicht ganz in Ordnung zu sein. Es dauerte eine Weile, bis er es richtig erkannte und Worte dafür fand.
Es machte Dodger verlegen, beim Starren ertappt worden zu sein, und er beschloss, ganz offen zu sein. »Ich glaube, mit Ihrem linken Auge stimmt was nicht, oder? Ich hoffe, es behindert Sie nicht zu sehr bei Ihrem Beruf.«
Das Gesicht des Künstlers erstarrte, geriet dann wieder in Bewegung und zeigte ein schiefes Lächeln. »Die Narbe ist sehr klein, und ich glaube, Sie sind der Erste, der sie bemerkt. Sie geht auf einen kleinen Unfall während meiner Kindheit zurück.«
Dodger betrachtete das lächelnde Gesicht und dachte: Nein, ich glaube, so klein war der Unfall nicht.
»Charlie hatte recht damit, was er neulich sagte.«
»Ach? Mmm, und was hat Charlie neulich über meinen Freund Dodger gesagt, wenn ich fragen darf?«, grollte Solomon, stand auf und ließ das Magazin in einer Tasche seines Mantels verschwinden. »Ich erführe es gern.« Er lächelte natürlich, aber aus den Worten war ein gewisser Ernst herauszuhören.
Tenniel hörte ihn, errötete und erwiderte: »Da ich schon einmal ins Fettnäpfchen getreten bin, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Aber bitte weisen Sie Mister Dickens nicht darauf hin, dass ich es erwähnt habe, ja? Er sagte: ›Mister Dodger ist so gewieft, dass man ihn eines Tages auf allen Kontinenten kennen wird, vielleicht als Wohltäter der Menschheit – oder als charmantesten Halunken, der je am Galgen endete.‹«