Als sie drinnen auf den Kissen saßen und dem klebrigen Londoner Regen entkommen waren, der jenseits der Fenster herabströmte, lehnte sich Solomon zurück und sagte: »Ich habe nie richtig verstanden, warum diese Leute ihren Kunden gegenüber so feindselig sind. Man sollte meinen, dass sich die Arbeit eines Kutschers vor allem für Männer eignet, die Menschen mögen, oder?«
Es schüttete regelrecht, und der Himmel hatte die Farbe einer gequetschten Pflaume. Ein solcher Tag war nicht gut für einen Tosher, aber die Nacht konnte vielversprechend sein, und Dodger hoffte, nach der Dinnerparty vielleicht dorthin zurückkehren zu können, wohin er gehörte – in die Kanalisation. Dann fiel ihm Solomons jüngster Vortrag ein, und in Gedanken fügte er hinzu: der Ort, wo ich manchmal sein möchte.
Er fühlte die Notwendigkeit einer Rückkehr dorthin, denn einmal mehr war er sich seiner selbst nicht sicher. Natürlich war er immer noch Dodger, aber welche Art von Dodger? Eins stand fest: Der Dodger von vor einer Woche war er gewiss nicht mehr. Und er dachte: Wenn wir Menschen uns so schnell verändern, wie können wir dann überblicken, was wir bekommen und was wir verlieren? Ich meine, heutzutage steige ich einfach in eine Kutsche, alles kein Problem. Ich bin ein junger Mann, der in Kutschen durch die Gegend fährt, nicht mehr der Bursche, der ihnen mit halb aus der Hose hängendem Hintern nachrannte und sich an ihnen festzuhalten versuchte. Jetzt bezahle ich für die Fahrt. Würde ich den anderen Jungen wiedererkennen?
Der Regen wurde noch stärker – es schien immer mehr auf ein Unwetter hinauszulaufen, vergleichbar mit dem in der Nacht, als er Simplicity zum ersten Mal begegnet war. Der Kutscher vor ihnen war den Elementen ausgesetzt, was vielleicht etwas mit seiner Übellaunigkeit zu tun hatte, und in diesem Wolkenbruch musste er das Navigieren dem Pferd überlassen. Die Welt schien nur aus Regen zu bestehen, und gegen alle Regeln der Natur fiel ein Teil davon nach oben, weil unten einfach kein Platz mehr war.
Plötzlich hörte Dodger ganz leise jenes Geräusch, auf das er unbewusst seit Tagen horchte: ein Quietschen wie von leidendem Metall. Und es kam von vorn. Er sprang zur Schiebeplatte, die es den Fahrgästen erlaubte, mit dem Kutscher zu reden, falls er ihnen zuhören wollte. Wasser klatschte Dodger ins Gesicht, als er rief: »Wenn Sie die Kutsche vor uns überholen – die mit dem quietschenden Rad –, bekommen Sie eine Krone!«
Er erhielt keine Antwort – wie hätte er sie auch im Rauschen und Prasseln des Regens hören sollen? –, aber die Kutsche wurde plötzlich schneller, und ein verwunderter Solomon sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob wir eine Krone übrig haben.«
Dodger achtete nicht darauf. Wenn man aufgeweckt war und wusste, wonach es Ausschau zu halten galt, gab es in einer Kutsche viele Stellen, wo man Halt fand, wenn man aufs Dach klettern wollte, in diesem Fall sehr zum Ärger des Kutschers, der mit recht ausdrucksstarken Worten den auf seinem Gefährt herumkraxelnden jungen Emporkömmling verwünschte. Im Lärm des Unwetters, der von hingebungsvollen Kutscherflüchen untermalt wurde, beugte sich Dodger nach unten und sagte: »Bestimmt haben Sie von dem Mann gehört, der den teuflischen Friseur Sweeney Todd überwältigt hat, nicht wahr? Nun, Kumpel, dieser Jemand bin ich, Dodger. Können wir jetzt miteinander reden, oder soll ich sauer werden?« Dodger arbeitete sich etwas weiter nach unten, näher zum Kutschbock, und sagte: »Der Besitzer der Kutsche vor uns wird wegen versuchten Mords, Überfalls und wegen Körperverletzung gesucht. Wahrscheinlich hat er auch eine junge Frau entführt und ist schuld daran, dass sie ihr Kind verlor.«
Wasser strömte in allen Richtungen vom Kutscher, und er knurrte: »Zum Teufel auch!«
»Zum Teufel, da bin ich ganz Ihrer Ansicht«, erwiderte Dodger. »Und wenn ich den Kerl in die Finger kriege, bevor die Peeler ihn erwischen, wird er den Teufel kennenlernen, das steht fest, und übrigens ist bei dieser Sache eine dicke Belohnung für Sie drin.«
Der Kutscher versuchte, das Pferd zu bändigen, während ringsum Blitze zuckten, und warf Dodger einen Blick zu, in dem Zorn, Faszination und ungläubiges Staunen lagen. »Ach, Mister Unbekannt hat von dir also mehr zu befürchten als von den Peelern, wie? Die Burschen haben verdammt große Schlagstöcke, wie ich sehr gut weiß!« Er öffnete einen Mund, in dem offenbar nur noch ein einzelner Zahn steckte, und fügte hinzu: »Du spürst es, wenn sie etwas deutlich machen wollen, die Mistkerle!« Er spuckte und fügte dem Unwetter damit die Menge von etwa drei Regentropfen hinzu. Dann schenkte er Dodger einen mitleidigen Blick und ein weiteres fast zahnloses Grinsen. »Wie willst du schlimmer sein als die Peeler, du kleiner Bengel? Na, sag’s mir!«
»Ich? Die Peeler haben Regeln, aber ich lasse mich von Regeln nicht aufhalten. Und im Gegensatz zu den Peelern muss ich beim Schlagen nicht aufhören.«
Die Kutsche blieb stehen, was dem Kutscher Anlass gab, noch etwas heftiger zu fluchen. »Piccadilly Circus, Meister, wegen des Regens völlig verstopft. Um ganz ehrlich zu sein, ich hab nicht die geringste Ahnung, welche der Kutschen vor uns diejenige ist, hinter der du her bist, Chef, denn die Blödmänner kommen hier von allen Seiten. Ich schätze, es liegt an den verdammten Vierspännern. Sollten in der Stadt nicht erlaubt sein, Kutschen mit vier Pferden! Und die Leute latschen über die Straße, als ob sie ihnen gehört. Haben die denn keinen Verstand im Kopf?«
Das stimmte. Fußgänger eilten zwischen den stehenden Kutschen hin und her, und Piccadilly Circus war ein Muster aus Regenschirmen zwischen den sich gegenseitig blockierenden Kutschen. Die Pferde waren inzwischen der Panik nahe, und von den Seiten näherten sich weitere Kutschen und auch einige Karren und Brauereiwagen. Dann musste irgendwo in dem nassen heillosen Durcheinander aus gereizten Pferden und verwirrten Fußgängern jemand die Spitze seines Regenschirms in die Nase eines Pferds gestoßen haben, denn plötzlich entstand ein Zustand, der die Bezeichnung Chaos nicht verdiente, denn Chaos war ein viel zu harmloses Wort dafür. Tohuwabohu eignete sich vielleicht besser als Beschreibung der Lage. Der Kutscher kannte einen noch besseren Ausdruck dafür, der hier jedoch nicht wiedergegeben werden kann, weil er das Papier in Brand setzen würde.
Als sich die Umstände wieder beruhigten, sagte der Kutscher: »Wenn sie die Leute da rausholen wollen, müssen sie ein paar Kutschen wegziehen und den ganzen verdammten Rest zerlegen.« Im Anschluss an diese Worte kam die Sonne heraus und schien an einem Stück blauem Himmel, was alles noch schlimmer machte, denn daraufhin dampften plötzlich alle Menschen und Pferde, die bisher noch nicht gedampft hatten.
Dodger musste einsehen, wie aussichtslos es geworden war, die Kutsche mit dem quietschenden Rad zu finden. Solomon spähte aus dem Kutschenfenster, zeigte ihm seine große Taschenuhr und machte ihm damit klar, wie sehr die Zeit drängte. Dodger stöhnte innerlich. Wenn er jetzt nachgab und wenn dieses brodelnde Fiasko schließlich beseitigt war – was hoffentlich geschah, bevor weitere Kämpfe ausbrachen –, so bekam er vielleicht, nur vielleicht noch einmal Gelegenheit, das schreiende Rad irgendwo zu hören. Falls er vom Schlauen Bob nicht erfahren konnte, was er erfahren wollte. Doch derzeit schien es vor allem Solomon zu sein, dem nach Schreien zumute war.
Dodger sah den Kutscher an, hob die Schultern und sagte: »Wie viel, Mister?«
Überraschenderweise schenkte ihm der Mann ein schlitzohriges Grinsen und gestikulierte auf eine Weise, die andeutete, dass er den Fortschritt von Pferden gezogener Transportmittel in diesem Teil der Stadt für einen großen Haufen Bockmist hielt. »Bist du wirklich der Geezer, der Sweeney Todd überwältigt hat?«, fragte er dann. »Für mich siehst du wie ein Lügner aus, aber das gilt auch für alle anderen. Na ja, wie wär’s, wenn du deinen Namen auf diese Seite hier schreibst und hinzufügst, dass du den teuflischen Friseur erledigt hast? Dann sind wir quitt, einverstanden? Ich schätze nämlich, die Seite mit deinem Namen drauf könnte eines Tages viel wert sein.«