Hier ist wieder Charlies Nebel am Werk, dachte Dodger. Wenn die Wahrheit nicht so beschaffen war, wie man sie wollte, so verwandelte man sie einfach in eine andere Version der Wahrheit. Doch der Mann wartete geduldig mit Bleistift und Notizbuch. Dodger nahm beides entgegen und geriet ins Schwitzen, als er ganz langsam schrieb, Buchstabe für Buchstabe: Ich bins gewehsen der Swienieh Tott überwälltikt hat, Dodscher, und das is die Wahrhait.
Kaum hatte er Notizbuch und Stift dem Kutscher zurückgegeben, wurde er von Solomon zum Straßenrand gezogen. Der alte Mann versuchte verzweifelt, einen Regenschirm zu öffnen, ein heimtückisches schwarzes Ding, das Dodger an einen seit Langem toten, aber trotzdem sehr großen Raubvogel erinnerte, der einem das Auge auspicken konnte, wenn man nicht aufpasste. Dodger wies darauf hin, dass der Schirm derzeit nicht nötig war, höchstens als Schutz vor den Pferden, die taten, was Pferde regelmäßig tun, diesmal nur etwas mehr, weil sie noch immer in Panik waren.
Sie machten sich zu Fuß auf den Weg in die Savile Row. In den Nebenstraßen waren mehr Fußgänger unterwegs als sonst, was an dem Kutschenknäuel lag, das sie dankenswerterweise hinter sich gelassen hatten. Sie erreichten ihr Ziel feucht und warm, was manchmal schlimmer war als feucht und kalt, wenn es wie in diesem Fall auch Klebriges von Pferden enthielt: die saubere, glänzende Tür von Davies & Son, Savile Row Nummer 38. Onan ließen sie an einem Laternenpfahl zurück, diesmal mit einem eigens für diesen Zweck gekauften Knochen, der dafür sorgte, dass er dem Rest der Welt keine Beachtung schenkte.
Drinnen versuchte Dodger, der Menge feiner Kleidung gegenüber nicht allzu ehrfürchtig zu sein. Er wusste natürlich, dass es weitaus bessere Klamotten gab, als er jemals getragen hatte, doch es überwältigte ihn, so viele davon auf engstem Raum zu sehen. Er tat so, als wäre das alles für ihn ein gewohnter Anblick, befürchtete allerdings, dass der inzwischen zwar wieder saubere, aber noch immer überaus geruchsintensive Gebrauchtanzug einen Hinweis auf die Wahrheit gab. Und wenn schon. Im Grunde genommen ist ein Schneider ein Schneider, und der Rest ist nur Schein.
Schließlich gelangten sie in die Obhut von Izzy, der klein und dürr war, aber erfüllt von einer lauernden Kraft, die unter anderen Umständen eine Mühle angetrieben hätte. Er erschien wie ein Pfeil zwischen Dodger, Solomon und dem Mann, der die Tür geöffnet hatte, und sprach so schnell, dass Dodger nur verstand: Izzy würde sich um alles kümmern, hatte alles, und alles war in bester Ordnung, wenn man alles Izzy überließ, der immer und überall dafür sorgte, dass alles äußerst zufriedenstellend war, zu einem Preis, den sämtliche Beteiligten als durchaus annehmbar empfinden würden, vorausgesetzt natürlich, und diesem Punkt kam besondere Bedeutung zu, dass man Izzy seine Arbeit verrichten ließ. Er drängte Solomon und Dodger in einen der Umkleideräume, plapperte die ganze Zeit über und entschuldigte sich immer wieder wegen irgendwelcher Anlässe, die überhaupt keiner Entschuldigung bedurften.
Ein Maßband erschien an Dodgers Schultern, nachdem sanfte, aber doch nachdrückliche Hände ihn in die Mitte des Raums bugsiert hatten, wo Izzy ihn mit dem Blick eines Schlachters musterte, der einem besonders schwierigen Mastochsen entgegentritt. Der kleine Mann eilte um ihn herum und nahm mit der Ein-Satz-nach-vorn-und-dann-ein-Sprung-zurück-Methode Maß. Während dieses Tanzes waren die einzigen Worte, die er an Dodger richtete, Variationen von »Wenn Sie sich bitte hierher drehen würden, Sir«, und Sir hier und Sir da, bis Dodger dringend einer Erfrischung bedurfte. Es war auch nicht besonders hilfreich, als der hin und her huschende Izzy seinen Tanz schließlich unterbrach, den Mund in die Nähe von Dodgers linkem Ohr brachte und im Tonfall eines Mannes fragte, der sich nach dem Heiligen Gral erkundigt: »Wie kleidet sich der Herr?«
Die Frage stellte Dodger vor ein Problem, denn er hatte nie groß darüber nachgedacht, auf welche Weise er sich anzog. Er machte es einfach, und das war’s. Doch der kleine Schneider stand vor ihm, als erwarte er einen Hinweis auf das Versteck eines großen Schatzes. Deshalb überlegte Dodger und sagte: »Nun, gewöhnlich ziehe ich zuerst die Unterhose vom letzten Tag an, wenn sie nicht zu schmutzig ist, und dann kommen die Strümpfe … Nein. Halt, stimmt ja gar nicht! An den meisten Tagen streife ich erst das Unterhemd über und dann die Socken.« In diesem Moment durchquerte Solomon den Raum, und zwar mit der Geschwindigkeit eines Gottes, der den Gottlosen eine Lektion erteilen will. Aber er begnügte sich damit, Dodger etwas ins Ohr zu flüstern, was diesen zu der empörten Bemerkung veranlasste: »Woher zum Teufel sollte ich das wissen? Ich hab nie nachgesehen! Manches findet seinen Platz von allein, oder? Wie kann man einen Mann so etwas überhaupt fragen?«
Solomon lachte laut, und dann steckten er und Izzy, der offenbar niemals zur Ruhe kam und sich dauernd bewegte, die Köpfe zusammen. Sie führten ein leises Gespräch, wobei sie auf die Sprachen von ganze Europa und auch des Nahen Ostens zurückgriffen, bis Solomon schließlich abermals lachte und sagte: »Deine Glückssträhne dauert an, Dodger. Izzy meint, dass er uns ein wundervolles Geschäft anbieten kann. Offenbar hat ein anderer Schneider den Auftrag erhalten, an einem Gehrock und einem sehr eleganten marineblauen Hemd zu arbeiten, aber bedauerlicherweise unterlief einem von Izzys Mitarbeitern beim Messen ein dummer Fehler, der dazu führte, dass die Sachen dem Herrn, für den sie bestimmt waren, nicht mehr passen. Deshalb möchte dir mein Freund Izzy« – Solomons Blick ruhte die ganze Zeit über auf dem kleinen Schneider – »einen kleinen Vorschlag unterbreiten.«
Izzy sah erst Solomon an, wandte sich dann an Dodger und sagte wie jemand, der dem Löwen, der ihn zu fressen droht, einen Knochen zuwirft: »Ich könnte Ihnen einen sehr guten Preis für beide Kleidungsstücke anbieten, die glücklicherweise nur wenige Nadelstiche von Ihren Maßen trennen, junger Mann. Wie wäre es mit einem Rabatt von … fünfzig Prozent?«
Das kurze Zögern wies darauf hin, dass Izzy nicht ganz sicher war, und erschwerend kam für ihn hinzu, dass er Solomons ausdruckslosem Gesicht nichts zu entnehmen vermochte.
Das Feilschen hatte gerade erst begonnen, und Izzy behielt Solomon im Auge, als er klugerweise hinzufügte: »Ich bitte um Verzeihung, es sollten natürlich fünfundsiebzig Prozent sein … Entschuldigung, ich meine achtzig. Außerdem gebe ich zwei sehr elegante Unterhosen hinzu, ja?«
Solomon lächelte, und der Schneider wirkte wie ein Mann, der nicht nur wenige Meter vor dem Galgen begnadigt wurde, sondern obendrein eine gut gefüllte Geldbörse für das Missverständnis bekommen hat. Zwanzig Minuten später geleitete ein dankbarer Izzy Solomon und den Helden der Fleet Street nach draußen. Dodger trug das Paket mit seinen neuen feinen Klamotten, Solomon die Tasche mit den Unterhosen, und Izzy besaß nun einen Teil des Gelds, das für den Helden gesammelt worden war. Das Management hatte freundlicherweise den Regenschirm trocknen und bürsten lassen, und außerdem wartete eine Kutsche auf sie.
Nun, eigentlich wartete sie nicht, sondern rollte über die Straße, bis Solomon ihr in den Weg trat und den Finger Gottes hob. Das Pferd wurde langsamer, noch bevor der Kutscher die Zügel ziehen konnte, denn Pferde erkannten drohendes Unheil auf Anhieb. Dodger setzte Onan mitsamt seinem Knochen in die Kutsche, bevor der Kutscher protestieren konnte – Onan neigte dazu, an den Orten, wo er sich aufgehalten hatte, eine gewisse Onanhaftigkeit zu hinterlassen.