»Eine bemerkenswerte Frau, diese Miss Burdett-Coutts«, sagte Solomon. »Sie ist Erbin und auch eine große Philanthropin, das heißt, sie spendet ihr Geld den Armen und Bedürftigen. Vielleicht sollte ich hinzufügen, dass ich damit nicht dich meine, denn du bist weder arm noch bedürftig. Du stehst nur manchmal bis zu den Knien in Jauche.«
Solomon schien seinen kleinen Scherz sehr witzig zu finden, und ihm nicht zu applaudieren … ebenso gut hätte man Onan treten können. Deshalb schob Dodger seine Gedanken an Simplicity beiseite und sagte: »Sehr komisch, wirklich! Aber warum in aller Welt sollte Miss Burdett-Coutts so viel Geld verschenken?«
Sie kamen über den Leicester Square, und Solomon sagte: »Weil sie es für richtig hält. Sie bezahlt für die Lumpenschulen, in denen manche Kinder zumindest eine einfache Bildung erhalten. Außerdem mmm finanziert sie Stipendien, was bedeutet, dass gelehrigere Schüler Gelegenheit erhalten, zur Universität zu gehen und dort eine bessere Bildung zu erhalten. Das ist alles, was man drüben in der Synagoge über sie weiß, abgesehen davon, dass sie Bienen züchtet, und man muss sehr mmm gescheit sein, um Bienen zu züchten – man muss Bescheid wissen, vorausplanen und an die Zukunft denken. Eine sehr gründliche Dame, ja, und gewissermaßen eine Institution.«
Solomon zögerte. »Sie kennt viele wichtige Persönlichkeiten, und ich frage mich, wer bei dieser kleinen Soiree noch zugegen sein wird. Ich nehme an, dass du erneut einen Blick ins Machtzentrum der Politik werfen kannst. Die Lords und gewählten Abgeordneten besprechen das Tagesgeschehen natürlich im Parlament, aber ich vermute stark, dass die Ergebnisse viel damit zu tun haben, worüber bei einem Drink gesprochen wird. Die Ratifizierung der auf diese Weise getroffenen Entscheidungen könnte eine mmm Variante des sogenannten Proportionalwahlrechts sein, doch im Großen und Ganzen scheint es zu funktionieren, manchmal mehr, manchmal weniger.«
Er erwärmte sich für sein Thema. »Die Engländer haben keine Theorien – das mag ich so an ihnen. Kein Engländer würde jemals sagen: Ich denke, also bin ich. Allerdings könnte man vielleicht ein Ich denke, also bin ich, denke ich erwarten. Leider gibt es manchmal auch zu viel Ordnung auf der Welt. Ah, da sind wir endlich! Achte auf deine Manieren und erinnere dich daran, was ich dir über das Essen mit verschiedenem Besteck gesagt habe! Dass du besser nicht stehlen solltest, möchte ich noch einmal betonen. Ich kenne dich als jungen Mann mit guten Vorsätzen, aber manchmal bist du ein bisschen mmm geistesabwesend, insbesondere in Hinsicht auf kleine, leichte Gegenstände. Vergiss deine alten Angewohnheiten wenigstens heute Abend, einverstanden?«
»Ich bin kein Dieb!«, begehrte Dodger auf. »Was kann ich dafür, wenn die Leute irgendwelche Gegenstände herumliegen lassen?« Dann stieß er Solomon an. »He, nur ein kleiner Scherz. Ich werde mich von meiner besten Seite zeigen, um meiner neuen eleganten Unterhose Ehre zu erweisen – ich habe nie zuvor eine getragen, die zwischen den Beinen so gut passte. Wäre mir klar gewesen, wie es sich anfühlt, zu den feinen Leuten zu gehören, hätte ich schon längst Aufnahme bei ihnen beantragt.«
Die Kutsche hielt kurz vor dem Ziel an – private Gespanne rangen dort höflich miteinander und setzten ihre Fahrgäste ab, ohne dass die Kutscher untereinander mehr als üblich fluchten. Dodger und Solomon stiegen aus und erklommen die Treppe vor dem prachtvollen Gebäude, auf das Dodger am Abend zuvor kaum geachtet hatte. Solomon hob die Hand, um anzuklopfen, und wie durch Magie öffnete sich die Tür, bevor er sie berührt hatte. Zum Vorschein kam der Butler Geoffrey.
Es war wichtig, fand Dodger, in der Nähe von Solomon zu bleiben, der ganz in seinem Element zu sein schien. Es trafen noch immer Gäste ein, die meisten von ihnen kannten sich, und sie wussten zweifellos, wo Drinks zu bekommen waren. Dodger und Solomon blieben weitgehend unbeachtet, bis Charlie und Mister Disraeli auftauchten, nachdem sie offenbar irgendwo die Köpfe zusammengesteckt und Neuigkeiten ausgetauscht hatten.
Disraeli ging schnurstracks auf Solomon zu und sagte: »Wie nett, Sie hier zu treffen!« Sie schüttelten sich die Hände, aber Dodger entnahm den Gesichtern, dass die beiden sich nicht über den Weg trauten. Dann wandte sich Disraeli mit einem Funkeln in den Augen an Dodger und rief: »Oh, wundervoll, der junge Tosher hat sich in einen Gentleman verwandelt! Ausgezeichnet!«
Das ärgerte Dodger ein wenig, obwohl er den Grund dafür nicht genau hätte sagen können. »Ja, Sir, in der Tat, heute Abend bin ich ein Gentleman und morgen vielleicht wieder ein Tosher.« Er hörte die eigenen Worte, und etwas in seinem Kopf klickte erneut und teilte ihm mit: Dies ist eine gute Gelegenheit, vergib sie nicht! Und so lächelte er und fügte hinzu: »Ich kann ein Gentleman sein und auch ein Tosher. Können Sie ein Tosher sein, Mister Disraeli?«
Für einen Moment – und von den anderen Gästen wahrscheinlich völlig unbemerkt – gefror die Welt und taute wieder auf, als Mister Disraeli sich zu einer Reaktion entschieden hatte. Sie bestand aus einem Lächeln wie die Morgensonne mit einem Messer zwischen den Zähnen. »Mein lieber Junge, halten Sie es für möglich, dass ich in die Rolle eines Toshers schlüpfe? Es ist ein Beruf, den ich bisher kaum in Erwägung gezogen habe.«
Er unterbrach sich, weil Charlie ihm auf den Rücken geklopft hatte und sagte: »Toshen bedeutet, im Dreck nach verborgenen Schätzen zu suchen, mein Freund. Hat das nicht erstaunliche Ähnlichkeit mit der Politik? An deiner Stelle würde ich die Chance nutzen, etwas Wichtiges über die Welt zu erfahren. Ich nutze solche Gelegenheiten immer.«
Disraeli musterte Dodger. »Nun, wenn ich darüber nachdenke … Eine Erkundung von Londons Unterseite könnte derzeit durchaus sinnvoll sein.«
»O ja«, sagte Charlie und grinste wie ein Mann, der einen Sixpence fallen lässt und eine Krone aufhebt. »Es würde der Öffentlichkeit zeigen, wie sehr du dich um die Kanalisation dieser Stadt kümmerst, in der viele ein großes Ärgernis sehen, um es gelinde auszudrücken. Ein kluger Politiker täte meiner Ansicht nach gut daran, seine Besorgnis angesichts der gegenwärtigen Zustände deutlich zu zeigen. Unsere Freunde vom Punch-Magazin würden dich zweifellos als vorausschauenden Politiker darstellen, der an die Stadt als Ganzes denkt.«
Für einige Sekunden wirkte Disraeli höchst nachdenklich und zupfte an seinem Spitzbart. »Ja, in der Tat, Charlie«, sagte er dann. »Ich glaube, da ist was dran.«
Dodger gewann den Eindruck, dass die beiden eigene Pläne schmiedeten. Er witterte Männer, die eine gute Gelegenheit erkannten und herauszufinden versuchten, wie sie diese zu ihrem Vorteil nutzen konnten – so wie er selbst. Dodger dachte: Charlie weiß, dass er in jedem Fall eine sehr gute Story bekommt, ganz gleich, was Mister Disraeli in der Kanalisation findet, Scheiße oder Gold.
Disraeli strahlte wie eine überaus enthusiastische Kerze, und sein Lächeln wuchs in die Breite, als er sagte: »Nun gut, Mister Dodger, niemand soll mir nachsagen, ich würde vor einer Herausforderung kneifen. Im Interesse der Öffentlichkeit bin ich bereit, eine unterirdische Wanderung zu unternehmen, wenn ich mich dabei Ihrer Führung anvertrauen darf. Wie wäre es … vielleicht übermorgen? Immerhin sollte ein Politiker mehr können als nur reden.«
Auf der Suche nach Anerkennung blickte er sich um, und Dodger sagte: »Ich weiß nicht, was ein Politiker alles können sollte, aber ich bin gern bereit, Sie durch die Kanalisation zu führen, Sir. Natürlich nicht in der Umgebung von Krankenhäusern. Bei den Brauereien lässt es sich aushalten. In ihrer Nähe haben selbst die Ratten einen angenehmen Geruch.«
An dieser Stelle kam Miss Burdett-Coutts, die ihre Runde bei den Gästen machte, an ihnen vorbei, und Charlie sagte: »Es gibt Neues, Angela. Ben und der junge Dodger haben vor, schon bald einen Ausflug in die Kanalisation zu unternehmen und diese im Interesse der Öffentlichkeit zu erkunden. Wie gefällt dir das?«