Dodger blickte sich um. Niemand schenkte ihnen Beachtung, und deshalb nahm er seinen Mut zusammen und sagte: »Angenommen, du könntest dich irgendwohin begeben, wo du diejenige sein könntest, die du sein möchtest. Ohne ein Problem für andere darzustellen. Weil nämlich … Ich habe da so einen Plan. Es ist ein ziemlich guter Plan, aber heute Abend liegt erst ein Teil davon vor, und am Rest arbeite ich noch. Es könnte riskant werden, und wir müssten uns verstellen, aber ich vertraue der Lady und glaube, dass es gelingt – bisher hat sie mich noch nie im Stich gelassen.« Dann musste er erklären, wer die Lady war.
Schließlich sagte Simplicity: »Ich verstehe. Ich meine, ich glaube zu verstehen. Aber, lieber Dodger, darf ich annehmen, dass wir beide zusammen an einem sicheren Ort wären, wenn der Plan Erfolg hätte?«
Dodger räusperte sich. »Ja, das sieht der Plan vor.«
Sie betrachtete ihn mit großen Augen. So wie Simplicity sprach, lag in ihren Worten immer etwas herrlich Feierliches, und jetzt sagte sie sanft: »Ich glaube, das wäre ein wundervoller Plan, Dodger, findest du nicht?«
»Du bist einverstanden?«, fragte Dodger.
»O ja, du bist sehr nett, wirklich sehr nett. Was Liebe betrifft, weiß ich noch nicht. Ich bildete mir ein, Liebe zu empfinden, aber es war keine echte Liebe, sondern eine Fälschung, eine falsche Münze, nicht das Gefühl, das es zunächst zu sein schien.« Sie zögerte. »Was ich für glänzende Sixpence hielt, stellte sich als Viertelpenny heraus, würdest du vielleicht sagen. Aber ich habe festgestellt, dass Freundlichkeit viel länger währt als Liebe, und meine Mutter sagte immer, Freundlichkeit sei verkleidete Liebe. Und wo du bist, Dodger, zischt die Welt irgendwie. Bei dir scheint alles möglich zu sein.«
Und Dodger, der manchmal über seine eigenen geistigen Füße stolperte, erwiderte sogleich: »Natürlich müssen wir nicht zusammen sein, wenn du nicht willst.«
Simplicity lächelte. »Dodger, vielleicht fällt dir die Einsicht schwer, aber manchmal solltest du besser schweigen.«
Und als Dodger errötete, wurde zum Essen geläutet.
Miss Burdett-Coutts führte ihre Gäste in den Speiseraum, begleitet von einem großen Mann, dessen Gesicht recht hart wirkte und der, wie Dodger erschrocken feststellte, ebenso gekleidet war wie er selbst, was ihn seltsamerweise tief beunruhigte. Ihm fiel ein, dass Izzy von einem anderen Kunden gesprochen hatte, für den Gehrock, Hemd und vielleicht auch die bequemen Unterhosen bestimmt gewesen waren, und diesen anderen Kunden glaubte er nun zu sehen.
Ja, der Gehrock war genauso beschaffen wie jener, den Dodger trug, und der Mann hatte die Jacke geöffnet, und darunter zeigte sich ein prächtiges Hemd aus blauer Seide. Es glich Dodgers Hemd, mit dem einen Unterschied, dass es etwas größer war. Und dann entdeckte ihn der Mann, und sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, bei dem sich Dodger die Nackenhaare aufstellten, von deren Vorhandensein er bisher gar nichts gewusst hatte. Aber Solomon und er hatten anständig und ordentlich für die Kleidung bezahlt, nicht wahr? Er wusste, dass sein Freund eine Quittung bekommen hatte – Quittungen waren für ihn fast genauso wichtig wie die gekaufte Ware.
In diesem Moment leichter Panik erkannte Dodger Henry Mayhew samt Gattin, die sich ihnen näherten, und da lief Simplicity auch schon los, um Jane Mayhew zu umarmen.
Während die Umarmung stattfand, streckte Henry Dodger die Hand entgegen und sagte munter: »Der Mann des Augenblicks, mein lieber Dodger. Ich habe die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten in London untersucht, und mir scheint, du kletterst die Leiter der Klassen schneller hinauf als ein Schimpanse, wenn du mir diesen Vergleich gestattest.« Er lächelte schief und fügte hinzu: »Nichts für ungut.« Er brauchte sich nicht zu entschuldigen, denn Dodger wusste gar nicht, was ein Schimpanse war. Aber er nahm sich vor, Solomon später danach zu fragen.
Ein wenig aufgeregt führte er Simplicity am Arm und folgte den Mayhews in den Speiseraum. Es gelang ihm, die junge Frau an ihrem Bestimmungsort abzuliefern, wofür ihm Angela ein anerkennendes Lächeln schenkte.
Dann wandte sich Angela ihm zu und sagte: »Haben Sie bereits meinen sehr guten Freund Sir Robert Peel kennengelernt, Dodger? Ich nehme an, Sie beide haben das eine oder andere gemeinsam.« Ein humorvoller Glanz lag in ihren Augen, als sie die zwei gleich gekleideten Männer vorstellte.
Sir Robert Peel lächelte, aber für den beunruhigten Dodger schien es eher eine Grimasse zu sein. »O ja, der Held der Fleet Street«, sagte der Mann. »Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen reden.«
Dodger blickte in das Gesicht, in dem überall Polizei geschrieben stand. Er dachte: Wird es ständig auf diese Weise weitergehen? Werde ich immer der Mann sein, der Sweeney Todd überwältigt hat? Es war durchaus nützlich, das musste er zugeben, aber gleichzeitig war es auch so unangenehm, so als trüge er die Hose eines Fremden, was tatsächlich der Fall zu sein schien. Und der Mann beobachtete ihn noch immer sehr aufmerksam, als wolle er ihn gründlich ausloten.
Die Gäste nahmen ihre Plätze ein, und Dodger wurde aufgefordert, sich neben Angela zu setzen, mit Simplicity an seiner Seite und Solomon neben ihr. Sir Robert – beziehungsweise »Lieber Rob«, wie Angela ihn nannte – nahm auf ihrer anderen Seite Platz.
Angela wandte sich an Dodger und fragte leise: »Tut es weh? Sie zucken jedes Mal zusammen, wenn Sie jemand Held der Fleet Street nennt. Wussten Sie das nicht? Charlie hat mir erzählt, dass Sie mehrmals versucht haben, die Leute darauf hinzuweisen, dass die Fakten dieser Angelegenheit nicht das sind, was sie zu sein scheinen, und dass Sie jedes Lob als eine Verdammung von Mister Todd empfinden, was Ihnen zur Ehre gereicht. Mir scheint, hier gibt es ein anderes Heldentum, ein Heldentum, das nur selten Beachtung findet. Ich werde das im Gedächtnis behalten, denn ich habe gewissen Einfluss. Manchmal kann man mit einem Wort am richtigen Ort viel bewirken.« Miss Burdett-Coutts lächelte. »Gefällt es Ihnen, in der Kanalisation nach Geld zu suchen? Sagen Sie die Wahrheit!«
»Ich brauche nicht zu lügen«, erwiderte Dodger. »Es ist Freiheit, Miss, das ist die Wahrheit, und auch sicher, wenn man aufpasst und den Kopf benutzt. Ich schätze, ich verdiene an jedem beliebigen Tag in der Woche mehr als ein Kaminkehrer, und Ruß … Oh, Miss, Ruß ist schlimmes Zeug und gar nicht gut für die Gesundheit. Schlecht für drinnen und draußen, das kann ich schwören. Aber wenn ich vom Toshen zurückkehre, lässt sich mit einem Stück Laugenseife alles in Ordnung bringen. Keine große Sache, aber man fühlt sich sauber.«
An dieser Stelle mussten sie das Gespräch unterbrechen, denn Kellner kamen vorbei, und nach dem Klappern der Teller und des – vielen, o ja! – Bestecks sagte Miss Burdett-Coutts: »Meinen Informanten zufolge scheinen Sie überall zu sein und alle zu kennen wie der berühmte – oder berüchtigte, wenn Sie so wollen – Straßenräuber Dick Turpin. Haben Sie von ihm gehört, junger Mann? Was halten Sie von seinem außergewöhnlichen Ritt nach York, auf dem Rücken seiner Stute Black Bess? Ich glaube, es gibt Theaterstücke über ihn, und das Volk liebt ihn, weil er ein Schlitzohr war.«
Dodger blickte besorgt auf seinen Teller hinab und sagte: »Ich habe von dem Herrn gehört, Madam, und es gefällt mir, dass er etwas Farbe in eine ansonsten oft recht graue Welt bringt. Aber ich glaube, er war schlau, viel zu schlau, um den ganzen weiten Weg nach York zu reiten. Zu riskant. Mit Pferden kenne ich mich zwar nicht besonders gut aus, aber ich nehme an, seine wackere Stute wäre nach einer Stunde oder so ziemlich müde gewesen, wenn er wirklich so schnell geritten ist, wie es heißt. Nein, ich schätze, er ging zu einigen seiner Kumpel, die gar keine guten Kumpel waren, und rief so etwas wie: ›Betet für mich, Jungs, denn ich reite geschwind wie der Wind nach York, und zwar noch heute Nacht!‹ Und da ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war, kann man sicher sein, dass ihn seine Kumpel sofort an die Bullen – Verzeihung, ich meine die Polizei – verraten haben. Unser Freund Dick, da wette ich eine Krone, verbrachte die Nacht vermutlich in West End, mit gefärbtem Schnurrbart und zwei hübschen Damen in den Armen. Das meine ich mit schlau. Einfach wegrennen nützt nichts, obwohl ich weiß, dass sie ihn schließlich erwischt haben. An seiner Stelle hätte ich mich als Priester verkleidet, wäre irgendwo untergetaucht und hätte Gras über die Sache wachsen lassen. Bitte entschuldigen Sie den Vortrag, Miss, aber Sie haben gefragt.«