Выбрать главу

13

Die Uhr tickt, und eine geheimnisvolle alte Dame überquert den Fluss

Solomon schwieg, bis die Kutsche schon ein ganzes Stück weit gerollt war, dann sagte er: »Eine ziemlich kesse junge Dame, meiner Meinung nach, und ich schätze, es ist was dran, wenn die Leute mmm sagen: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Und du, Dodger, bist Dodger, was ein eigenes Talent ist. Aber sei vorsichtig – du befindest dich im Zentrum des Geschehens, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest. Zwar gibt es Vertreter anderer Mächte in diesem Land, doch sie würden es sich bestimmt zweimal überlegen, Mister Disraeli oder Mister Dickens Schaden zuzufügen. Anders sähe es bei einem Tosher aus, der sich ihrer Meinung nach ohne viel Aufhebens aus dem Weg räumen ließe.«

Dodger wusste, dass Solomon recht hatte. Immerhin ging es bei dieser Sache auch um Politik, und wenn Politik eine Rolle spielte, waren Geld und Macht nicht weit, und beides mochte für gewisse Leute wichtiger sein als ein Tosher und eine junge Frau.

»Denk dran, dass du morgen, wenn du ins Theater gehst, wieder gut herausgeputzt sein musst«, sagte Solomon. »Übrigens, was hat es mit dem Zettel auf sich, den du da in der Hand hältst? Es ist ungewöhnlich für dich, dass du zu lesen versuchst …«

Dodger gab den ungleichen Kampf auf. »Bitte, sag mir, was das hier bedeutet, Sol, denn ich glaube, es ist wichtig. Ich nehme an, dies sind die Leute, die es auf Simplicity abgesehen haben.«

Die Geschwindigkeit, mit der Solomon Informationen von einem Stück Papier saugte, grenzte für Dodger immer an ein Wunder. »Es ist die Adresse einer Botschaft«, erklärte der alte Mann.

»Was ist eine Botschaft?«, fragte Dodger.

Solomon brauchte einige Minuten, um Dodger die Bedeutung einer Botschaft zu erklären, aber am Schluss der Erklärung standen Dodgers Augen in Flammen, und er sagte: »Nun, du weißt ja, wie es mit mir und dem Lesen steht. Kannst du mir nicht einfach sagen, wo sich die Botschaft befindet?«

»Ich frage mich, ob ich das wagen darf«, erwiderte Solomon. »Aber wie ich dich kenne, gibst du keine Ruhe, bis du es schließlich herausfindest. Bitte, versprich mir wenigstens, dass du niemanden umbringst. Es sei denn, man versucht vorher, dich umzubringen.« Er fügte hinzu: »Eine bemerkenswerte Frau, Angela, nicht wahr?« Er sah aus dem Fenster und fuhr fort: »Ich glaube, ich könnte den Kutscher veranlassen, an der Adresse vorbeizufahren.«

Fünf Minuten später starrte Dodger auf das Gebäude wie ein Taschendieb, der die Hosentaschen eines Lords beobachtet. »Ich fahre mit dir zurück, damit du wohlbehalten heimkommst«, sagte er. »Aber danach warte nicht auf mich.«

Den ganzen Weg nach Seven Dials brannte er vor Ungeduld, während die Kutsche durch dunkle Straßen rumpelte, und als sie zu Hause ankamen, gab er vor, den Schatten nicht zu bemerken, der aus einer finsteren Ecke heraus alles beobachtete. Der Mann schien ihnen keine besondere Beachtung zu schenken, als sie die Treppe hinaufstiegen, wobei Solomon darüber klagte, dass er an diesem Abend so spät ins Bett kam. Dodger verbrachte einige Zeit damit, Onan zu füttern und den üblichen kleinen Abendspaziergang zu unternehmen, und wenig später sah der Beobachter, wie oben hinter dem Fenster das Licht der einen Kerze verschwand.

Auf der anderen Seite des Gebäudes hangelte sich Dodger – der mittlerweile seine Arbeitskleidung trug – an einem Seil hinab, das er stets benutzte, wenn er unbemerkt die Straßen erreichen wollte. Dann schlich er zu dem Mann, der noch immer Ausschau hielt, band in der Dunkelheit die Schnürsenkel seiner Stiefel zusammen, brachte ihn mit einem Tritt zu Fall und sagte: »Hallo, ich heiße Dodger, und wie heißt du?«

Der Mann war zuerst überrascht und dann zornig. »Ich bin Polizist, damit du’s weißt!«

»Ich sehe keine Uniform, Herr Polizist«, meinte Dodger. »Ich sag dir was: Du hast ein nettes Gesicht, und deshalb lasse ich dich laufen, klar? Und richte Mister Robert Peel aus, dass Dodger die Angelegenheit auf seine Weise erledigt, kapiert?«

Dodger lag nicht unbedingt im Clinch mit Scotland Yard, aber die Polizei hatte ihn auf dem Kieker, und das war mehr, als ihm lieb sein konnte. Wenn die Peeler von Scotland Yard jemanden in die Finger bekommen hatten, ließen sie ihn nicht mehr los. Und wenn sich herumsprach, dass er, Dodger, mit den Peelern gesprochen hatte – noch dazu mit ihrer Nummer eins, dem großen Peel höchstpersönlich! –, dachten die Leute auf der Straße womöglich, dass er schlechten Umgang pflegte und sie ausspionierte.

Schlimmer noch: Er selbst wurde ausspioniert. Von Polizisten, die keine Uniform trugen, sondern wie ganz gewöhnliche Männer gekleidet waren. So etwas sollte verboten sein – es war einfach gegen alle Regeln. Immerhin, wenn man einen Peeler in der Nähe sah, verzichtete man vielleicht darauf, jemandem in die Tasche zu langen oder irgendwelche Dinge mitzunehmen, die einfach nur herumlagen und eigentlich niemandem gehörten, oder etwas von einem Karren zu stoßen, wenn der Besitzer gerade nicht hinsah. In Gegenwart von Polizisten blieb man ehrlich, nicht wahr? Aber wenn sie einfach nur herumlungerten und wie Hinz und Kunz aussahen … Damit forderten sie einen praktisch auf, Verbrechen zu begehen, oder? Dodger fand das ausgesprochen fies.

Es lag bereits ein langer Abend hinter ihm, aber es mussten noch gewisse Erledigungen getätigt werden, und zwar schnell, denn sonst drohte er zu platzen. Deshalb eilte er durch die dunklen Straßen, bis er die Bleibe von Ginny-Komm-Spät erreichte.

Beim dritten Klopfen öffnete sie die Tür und schien ziemlich schlechter Laune zu sein, bis sie erkannte, wer vor ihr stand. »Oh, du bist’s, Dodger, wie nett! Äh, ich kann dich noch nicht hereinlassen, du weißt ja, wie es ist, nicht wahr?«

Dodger wusste natürlich, wie es war, denn so war es immer. »Nett, dich zu sehen, Ginny. Erinnerst du dich an das kleine Werkzeugpaket, um dessen Aufbewahrung ich dich bat, als ich Solomon versprechen musste, nie wieder zu klauen? Hast du’s noch?«

Ginny lächelte kurz, verschwand in ihrer Bude und kehrte mit einem Bündel zurück, das in Ölzeug eingehüllt war. Sie drückte Dodger einen Kuss auf die Wange und sagte: »In letzter Zeit höre ich viel von dir, Dodger. Ich hoffe, sie ist es wert.«

Aber Dodger war bereits losgelaufen. Das Laufen hatte ihm immer gefallen, und das war auch gut so, denn ein Dieb, der nicht rasch vorwärtskam, wurde schnell zu einem toten Dieb. Aber nun lief er wie noch nie zuvor, nicht im Dauerlauf, sondern in einem langen Sprint. Gelegentlich bemerkte ein wachsamer Peeler, dass da jemand an ihm vorbeistürmte, blies in seine Pfeife und kam sich unmittelbar darauf ziemlich dumm vor, weil Dodger bereits ein rasch schrumpfendes Stück Dunkelheit in einer Stadt voller Düsternis geworden war. Er lief nicht, er rannte, seine Beine stampften, und das Klopfen seiner Füße auf dem Kopfsteinpflaster war schneller als der Herzschlag. Tauben flogen erschrocken auf. Ein Mann, der ihm in einer Gasse auflauern wollte, bekam einen Faustschlag ab, ohne dass Dodger langsamer wurde. Er wandte sich nicht einmal um, denn … Nun, inzwischen lag alles hinter ihm, während er die Kraft seines Zorns in die Beine lenkte und ihnen einfach folgte, und dann … war es plötzlich wieder da. Das Gebäude.

Dodger verharrte in der Finsternis und musste erst zu Atem kommen – er hatte sein Ziel erreicht und nahm sich Zeit. Im schwachen Licht seiner abgedunkelten Laterne streifte er das Ölzeug des Pakets beiseite, löste die Schnüre des grünen Wollstoffs … Und da glänzten sie, seine kleinen Freunde, der Halbdiamant, der Schneemann, der Spanner und alle die anderen Werkzeuge, die er selbst angefertigt oder verändert hatte, weil jedes Schloss ein bisschen anders war. Sie grüßten ihn und schienen vor ihm zu salutieren, bereit für den Kampf.

Kurze Zeit später bewegte sich Dunkelheit innerhalb von Dunkelheit, und diese besondere Dunkelheit fand auf der unzuträglicheren Seite des Gebäudes eine Metallabdeckung über einem Kellerzugang. Nachdem er sie geölt und ein wenig daran herumgewerkelt hatte, war Dodger drinnen, bereit, den Feind an der Gurgel zu packen. Er grinste, aber es lag keine Freude in diesem Grinsen, eher eine scharfe Klinge.