Er wich einen Schritt zurück, als die Alte versuchte, die nicht sehr angenehm riechenden Arme um ihn zu schlingen. »Gott segne Sie, Sir, Sie sind ein wahrer Gentleman«, sagte sie. »Ich werde jeden Stein umdrehen, Sir, ja, das werde ich, Sir, vielen, vielen Dank für Ihre Güte. Ich habe einige Freunde, mit denen ich reden kann und die mir vielleicht dabei helfen, ihrer Mama einen Brief zu schreiben, vielleicht haben sie das Geld fürs Porto, und ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um Ihnen keine Last zu sein, Sir. Ich möchte mir nicht nachsagen lassen, ich hätte jemanden von Ihnen ins Armengrab gebracht, Sir.« An dieser Stelle strömten tatsächlich Tränen über die Wangen des Coroners. Und Dodger meinte es ernst. Der Mann war ein anständiger Bursche, das merkte er sich.
Der Coroner beauftragte einen Beamten, die Alte zum Kai zurückzubringen, und bevor er sie verabschiedete, drückte er ihr genug Geld für den Fährmann in die Hand. Und so sah der namenlose Beobachter auf dem Mond, wie die arme Alte durch die böse Stadt humpelte, bis sie in einer Gasse plötzlich in die Kanalisation fiel, wo sie starb, aber sofort als Dodger wiedergeboren wurde – was sie vermutlich der Lady verdankte –, noch dazu als ein erschütterter Dodger.
Er war daran gewöhnt, Rollen zu spielen. Als Dodger musste er mit allen Wassern gewaschen sein, allen ein Freund und niemandem ein Feind. Das war schön und gut, aber manchmal wich das alles fort, und dann war er nur noch Dodger, allein im Dunkeln. Er merkte, dass er zitterte, und unten in den gastlichen Abwasserkanälen hörte er die Geräusche von London, gefiltert von den Abflussgittern. Sorgfältig packte er die Sachen der alten Frau zu einem Bündel zusammen und versuchte sich die genaue Stelle einer jeden Warze einzuprägen. Dann ging er los.
Er war noch immer traurig wegen des ertrunkenen Mädchens, so traurig wie die Alte. Es war wirklich alles sehr schade und auch eine Schande, dass so etwas passierte. Er wollte dafür sorgen, dass die Unbekannte tatsächlich ein ordentliches Begräbnis bekam, wenn dies alles vorbei war – sie sollte weder in einem Armengrab enden noch an einem womöglich noch schlimmeren Ort. Geistesabwesend toshte er sich seinen Weg durch die Stadt und sammelte dabei die eine oder andere Münze ein.
Nun, das mit dem Coroner war geklärt, aber Leichen benötigten viel Aufmerksamkeit, und es nutzte nichts, er musste zu Missus Holland. Das bedeutete einen Abstecher nach Southwark, und dort musste selbst ein Geezer wie Dodger vorsichtig sein. Aber wenn es einen vorsichtigen Geezer gab, so war es Dodger.
Missus Holland. Sie hatte keinen anderen Namen. Schon allein galt sie als eine Gang, und wenn das nicht reichte, war da noch ihr Mann namens Aberdeen Knocker, von seinen Freunden Bang genannt, der die Stadt Aberdeen vermutlich nie gesehen hatte; sie lag irgendwo im Norden, vielleicht in Wales. Der Spitzname war einfach auf ihm gelandet, wie es in Londons Straßen oft geschah – Dodger hatte seinen auf ähnliche Weise bekommen –, aber seine Haut war schwarz wie das Innere eines Kamins. Seit sechzehn Jahren war er mit Missus Holland verheiratet, zumindest rein theoretisch. Ihr Sohn, aus irgendeinem Grund von allen Halber Bang genannt, war so schlau wie ein Verlies voller Anwälte und eine echte Hilfe für die Geschäfte der Familie, die vor allem Immobilien und Menschen betrafen.
Missus Holland hatte großes Organisationstalent und außerdem eine sehr fruchtbare Phantasie. Praktisch jeder Seemann, der im Hafen von London an Land gegangen war, hatte Missus Hollands League besucht, wie man es nannte, für gewöhnlich zu dem Zweck, jungen Damen zu begegnen, die in den oberen Etagen des Gebäudes residierten, während sich Missus Holland in ihrem Büro im Erdgeschoss um alles kümmerte. Es ging das Gerücht, dass Missus Holland, da sie nun mal Missus Holland war, Seeleute manchmal schanghaien ließ und auf eine wundervolle Reise schickte, vielleicht um Kap Horn oder in Davy Jones’ Kiste. Aber wenn sie nicht gerade irgendwelche Matrosen mit schönen Ferien beglückte, bewerkstelligte Missus Holland das eine oder andere.
Bei den Docks galt sie als Königin, und niemand stellte diese Tatsache infrage, wenn Bang sie begleitete. Es wäre schwierig gewesen, ihrer aktuellen Tätigkeit einen Namen zu geben, aber Dodger wusste, dass sie einmal Krankenschwester und Hebamme gewesen war. Offenbar hatte sie sich ihren Lebensunterhalt damit verdient, Dinge zum Vorschein oder – was öfter geschehen war – zum Verschwinden zu bringen. Wenn man als jemand kam, der genauere Einblicke in ihre Beschäftigung wünschte, so riskierte man, bald jemand zu sein, der die Themsebrücken von unten betrachtete.
Dodger kam natürlich gut mit der Familie zurecht, insbesondere mit Bang, der dem jungen Dodger einmal die Narben von den Fußeisen und auch das Brandzeichen gezeigt hatte, mit dem die Sklavenhalter ihr Eigentum kennzeichneten. Trotz seiner Vergangenheit war er ein sanfter, umgänglicher Mann, und als er auf Dodgers Klopfen hin die Tür öffnete, hielt er einen knurrenden, zähnefletschenden Hund von satanischen Ausmaßen zurück, der die vorderste Verteidigungslinie der Familie bildete. Sie besaß auch eine Donnerbüchse, groß wie ein Waldhorn und angeblich geladen mit Schwarzpulver, Steinsalz und – für besondere Gäste und begriffsstutzige Besucher – mit Nägeln verschiedener Größe.
Dort stand Missus Holland höchstpersönlich, mit ihrem Mehrfachkinn und dem großen runden Gesicht, in dem es viel Platz für ihr Lächeln und für die hellblauen Augen gab, in denen, wie Dodger festgestellt hatte, immer dann unzweifelhafte Aufrichtigkeit leuchtete, wenn sie eine glatte Lüge erzählte. Sie ließ die Donnerbüchse sinken und rief fröhlich: »Dodger! Wie er leibt und lebt! Willkommen! Willkommen!«
Kurze Zeit später saß sie in ihrem kleinen Privatzimmer und hörte sich Dodgers Geschichte an. Der Hund namens Jasper lag friedlich zu ihren Füßen, aber jederzeit bereit, auf ihre Anweisung hin sogleich aufzuspringen und zu knurren. Eine Weile wirkte Missus Holland recht nachdenklich, dann sagte sie: »Oh, es ist erstaunlich, wie lebendig eine Leiche wirken kann. Steif am einen Tag und ganz verspielt am nächsten. Was du vorschlägst, ist keine Reise für Unerfahrene, aber ich weiß Bescheid, o ja. Mit Leichen bin ich recht vertraut, wie dir bekannt sein dürfte. Also hör deiner Lieblingstante gut zu, ja? Nun, zunächst einmal brauchst du …«
Dodger lernte schnell, und nach einigen Minuten sagte er: »Ich stehe in Ihrer Schuld, Missus Holland.«
Sie lächelte und erwiderte: »Weißt du, ich habe dich immer für einen meiner feschen Jungs gehalten. Was die Schuld betrifft … Nun, wer weiß? Eines Tages hast du vielleicht Gelegenheit, mir eine Gefälligkeit zu erweisen. Keine Sorge, mir ist klar, dass du kein Killer bist, in dieser Hinsicht fiele meine Wahl also nicht auf dich. Aber es gibt noch andere Aufgaben, und wie heißt es so schön? Eine Hand wäscht die andere.«
Dodger blickte auf Missus Hollands dicke Hände, die den Eindruck erweckten, als hätten sie sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Aber er verstand die Bedeutung der Worte und hieß sie gut. Gefälligkeiten waren hier unten eine Währung, ebenso auf der Straße. Er wusste auch, dass Missus Holland immer ein Lächeln für ihn übrig hatte, vielleicht sogar noch etwas mehr, aber es brachte nichts, sich auf ein Lächeln zu verlassen.