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Die Ratten liefen und kletterten an ihm vorbei, als wäre er überhaupt nicht da, und Dodger dachte: Sie sehen mich fast jeden Tag. Er hatte sie nie gejagt, nie nach ihnen getreten und nicht einmal versucht, sie mit dem Fuß aus dem Weg zu schieben. Er ließ sie in Ruhe, und deshalb ließen sie ihn in Ruhe. Außerdem wusste er, dass er bestimmt nicht mit dem Wohlwollen der Lady rechnen konnte, wenn er ihren kleinen Untertanen gegenüber gemein war. Opa hatte keinen Zweifel daran gelassen. »Wenn du auf eine Ratte trittst, so trittst du auf das Gewand der Lady«, hatte er gesagt, und Dodger flüsterte nun in die Dunkelheit: »Lady, ich bin’s noch einmal, Dodger. Ich könnte jetzt etwas von dem bereits erwähnten Glück gebrauchen, wenn es sich irgendwie machen lässt. Danke im Voraus, Dodger.«

Und weiter vorn in der Finsternis erklang der schmerzerfüllte Schrei einer Ratte. Sie konnten recht laut sterben, die Ratten, und Dodger hörte ein Quieken, und dann liefen noch mehr Ratten an ihm vorbei.

Und plötzlich zeichneten sich die Umrisse des Fremden in der Düsternis ab, wie er anerkennenswert leise durch den Abwasserkanal schlich, vorbei an Dodger in seinem stinkenden Versteck, denn Dodger war ganz klar unsichtbar: Ihm hafteten die gleiche Farbe und der gleiche Gestank wie der Tunnel an. Die Ratten versuchten auch über den Eindringling hinwegzulaufen, aber er schlug mit etwas nach ihnen – Dodger konnte den Gegenstand nicht genau erkennen –, und die Ratten schrien, zweifellos laut genug, damit die Lady sie hörte.

In der Hand hielt Dodger – ja! – Sweeney Todds Rasiermesser, das er weniger als Waffe mitgebracht hatte, sondern als Talisman: ein Geschenk des Schicksals, das sein Leben verändert hatte, so wie es auch Sweeney Todds Leben verändert hatte. Wie hätte er es an einem solchen Tag zurücklassen können?

In der Finsternis erkannten Dodgers ans Dunkel gewöhnte Augen das Stilett in der Hand des Mannes. Es war die Waffe eines Meuchelmörders – ein anständiger Mörder verwendete so etwas nicht. Der Gedanke kam ganz plötzlich: Für ihn, Dodger, gab es hier unten nichts zu befürchten. Dies war seine Welt, und er fühlte, dass die Lady ihm half, er spürte es deutlich. Nein, derjenige, der hier Angst haben sollte, war der Mann, der dort durch die Finsternis schlich, wo Dodger ihn sehen konnte … Und Dodger stürzte sich auf ihn und drückte ihn zu Boden. Ob Meuchelmörder oder nicht – es war schwierig, von einem Dolch Gebrauch zu machen, wenn man im Schlamm eines Abwasserkanals lag und Dodger auf dem Rücken hatte.

Er war ein sehniger Junge, aber es gelang ihm, den Mann so festzuhalten, als wäre er am Boden festgenagelt, und er schlug dabei auf alles ein, worauf sich einschlagen ließ. Dodger hielt ihm kalten Stahl an die Kehle und flüsterte: »Wenn du etwas über mich weißt, so sollte dir klar sein, dass du Sweeney Todds Rasiermesser an deiner Kehle fühlst. Es ist sehr scharf, und wer weiß, was es alles schneiden könnte?« Er gestattete es dem Mann, für einen Moment wenigstens Mund und Nase aus dem Schlamm zu heben, und fügte hinzu: »Ich muss schon sagen, ich habe mehr erwartet als dies. Na los, heraus mit der Sprache!«

Der Mann unter ihm spuckte Dreck und etwas Haariges, das einmal Teil einer Ratte gewesen sein mochte. Er wollte etwas sagen, aber Dodger verstand ihn nicht. »Wie war das? Drück dich deutlicher aus!«

Woraufhin eine Stimme erklang, die Stimme einer Frau. »Guten Abend, Mister Dodger. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie feststellen, dass ich eine Pistole in der Hand halte, eine ziemlich gute noch dazu. Sie werden sich nicht bewegen, während mein Freund hier aufhört, sich auf so unangenehme Weise zu übergeben, wonach er vermutlich das mit Ihnen anstellen möchte, was Sie gerade mit ihm anstellen. Bis dahin werden Sie sich nicht von der Stelle rühren, denn ich schieße, wenn auch nur ein Muskel zuckt, und später werde ich Ihre junge Freundin töten … Übrigens kann ich nicht behaupten, diesen Herrn besonders zu mögen. Er ist nicht unbedingt der beste Assistent, den ich je hatte. Oje, oje, warum glauben nur alle, dass der Ausländer ein Mann ist?« Die Eigentümerin der Stimme trat näher, woraufhin Dodger sie und ihre Pistole erkannte.

Kein Zweifel, der Ausländer war schön, das ließ sich selbst in der Dunkelheit erkennen. Die Fremde sprach fließend Englisch, aber es ließ sich ein leichter Akzent vernehmen, den Dodger einzuordnen versuchte. China? Nein. Irgendein Land in Europa? Vielleicht. Die Pistole in seinem Stiefel fiel ihm ein, Solomons Pistole, vorgesehen für einen Plan, der inzwischen völlig unnütz war, und er fragte: »Entschuldigen Sie, Miss, aber warum wollen Sie Simplicity töten?«

»Weil ich dann ziemlich viel Geld bekomme, junger Mann. Das wissen Sie doch, oder? Was Sie betrifft … Ich habe keinen Streit mit Ihnen, obwohl Hans – wenn er wieder stehen kann – vermutlich ein kurzes, ein sehr kurzes Gespräch mit Ihnen führen möchte. Wir müssen warten, bis sich der arme Kerl erholt hat.«

Die junge Frau – der Ausländer sah aus wie eine junge Frau, nicht älter als Simplicity, schien aber, das musste Dodger zugeben, ein wenig schlanker zu sein – schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Es wird nicht lange dauern, Mister Dodger. Und worauf starren Sie so – außer auf mich?«

Dodger verschluckte sich fast an seiner Zunge. »Oh, Miss, ich starre nicht, ich bete nur zur Lady.« Er betete tatsächlich, aber er beobachtete auch, wie sich die Schatten bewegten.

»Ah ja, ich habe von ihr gehört … der Madonna der Kanalisation, der Göttin Cloacina, der Herrin der Ratten, und ich sehe hier heute Abend viele Mitglieder ihrer Gemeinde«, sagte die Ausländerin.

Hinter ihr bewegten sich die Schatten erneut. Und die Hoffnung, die kurz zuvor verschwunden war, kehrte zurück. Dodger achtete darauf, sich nichts davon anmerken zu lassen.

»Sie müssen sehr an sie glauben, wenn Sie sich von der Dunkelheit Hilfe erhoffen. Aber ich fürchte, es sind mehr als ein paar Ratten nötig, um Sie noch zu retten, ganz gleich, wie hoffnungsvoll Sie in die Finsternis spähen …«

»Jetzt!«, rief Dodger, und das recht dicke Holzstück in Simplicitys Händen flog bereits, traf die Ausländerin am Hinterkopf und warf sie zu Boden. Dodger sprang und rutschte, schnappte sich die Pistole und stieß in seiner Hast mit dem Kopf gegen die Wand des Abwasserkanals. Panik erfasste die Ratten, sie liefen davon und quiekten.

Er versetzte Hans einen weiteren Tritt, um sicherzugehen, dass er unten blieb, und Simplicity war so geistesgegenwärtig, sich auf die Frau zu setzen. Dodger dachte: Dem Himmel sei Dank für die vielen nahrhaften deutschen Würste, und er rief: »Warum bist du zurückgekehrt? Es ist gefährlich!«

Simplicity warf ihm einen verwunderten Blick zu und erwiderte: »Ich habe mir den Ring angesehen, und dabei ist mir die Gravur aufgefallen: Für S., in Liebe, D. Deshalb musste ich zurückkehren, aber ich bin leise gewesen, weil wir in der Kanalisation leise sein sollten. Den anderen habe ich gesagt, ich würde warten, bis du nach oben kommst, und ich dachte mir, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Du hast mir erzählt, dass der Ausländer immer eine gut aussehende Frau dabei hat, und ich dachte mir: Eine gut aussehende Frau, die einen Mörder begleitet, muss eine sehr starke Frau sein. Ich habe mich gefragt, ob dir das klar ist. Und wie mir scheint, mein liebster Dodger, habe ich recht behalten.«

In den Echos dieser kleinen Ansprache glaubte Dodger für einen Moment, Opas Stimme zu hören, ihren fröhlichen, zahnlosen Klang: Hab’s dir gesagt! Du bist der beste Tosher, den ich kenne, und jetzt hast du deinen Tosheroon gekriegt. Die junge Dame hier, Junge, sie ist dein Tosheroon.«

Dodger trat auf den Ausländer, als er sich vorbeugte, Simplicity umarmte und ihr einen Kuss gab, der leider nicht von langer Dauer sein konnte, weil es noch viel zu tun gab.