Der Polizist sah erst Charlie und dann Dodger an. »Dies ist eine Schusswunde, ohne jeden Zweifel, und es gibt noch mindestens eine weitere. Aber wer hat geschossen? Das wüsste ich gern.«
»Oh, nun, für die Antwort auf diese Frage muss ich die Herren bitten, mir nach dort drüben zu folgen«, sagte Dodger. »Wenn Sie bitte die Klappen Ihrer Laternen ganz öffnen würden … Dann sehen Sie eine gefesselte Dame, die Sie als den Ausländer identifizieren werden.«
Das überraschte selbst Charlie. »Unmöglich!«
»Sie hat es mir selbst gesagt«, erwiderte Dodger. »Und neben ihr liegt Beweisstück B, ihr Komplize. Ich weiß nur, dass er Deutsch spricht, mehr nicht. Aber ich schätze, er wird nur zu gern bereit sein, Ihnen alles zu erzählen, denn soweit ich weiß, hat er nichts mit Simplicitys Tod zu tun und auch kein anderes Verbrechen in London begangen. Abgesehen von dem Versuch, mich zu ermorden.« Er hob die Pistole und sagte: »Dies ist die Tatwaffe, meine Herren. Ach, wenn ich doch nur hätte verhindern können, dass Miss Si… Miss …«
Dodger begann zu weinen, und Charlie klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Eine Pistolenkugel konntest du nicht aufhalten, so ist das nun einmal. Aber dafür hast du es geschafft, die Übeltäter dingfest zu machen.« Er schniefte und fuhr so leise fort, dass der Constable ihn nicht hörte: »Du hast uns ganz offensichtlich die Wahrheit gesagt, aber ich habe die eine oder andere Leiche gesehen – und ob ich das habe! –, und diese erscheint mir … nun, nicht mehr ganz frisch zu sein …«
Dodger blinzelte und sagte: »Ja, ich glaube, es liegt an den miasmatischen Effusionen. Die Abwasserkanäle stecken voller Tod und Zerfall, und das kriecht überallhin, ob man will oder nicht.«
»Miasmatische Effusionen«, wiederholte Charlie und sprach wieder lauter. »Hast du das gehört, Ben? Was soll man dazu sagen? Wir alle wissen, dass Dodger Miss Simplicity auf keinen Fall etwas angetan hätte. Es ist kein Geheimnis, dass ihm sehr an ihr gelegen war. Ich hoffe also, dass du mein Mitgefühl für diesen jungen Mann teilst, dem es trotz des Tods seiner Geliebten gelang, einen gefährlichen Killer zur Strecke zu bringen.« Er fügte hinzu: »Was meinen Sie, Constable?«
Der Polizist wirkte sehr ernst. »So hat es den Anschein, Sir, aber der Coroner muss benachrichtigt werden. Hat die Tote irgendwelche Angehörigen, von denen Sie wissen?«
»Leider nein«, bedauerte Charlie. »Ich fürchte, Officer, niemand weiß genau, wer sie war und woher sie kam. Sie scheint Pech in ihrem Leben gehabt zu haben; man könnte sie eine Waise des Sturms nennen. Miss Coutts nahm sie aus reiner Herzensgüte unter ihre Fittiche. Was denkst du, Ben?«
Mister Disraeli schien von der ganzen Angelegenheit entsetzt zu sein und sagte beunruhigt: »Eine schreckliche Sache, Charlie, in der Tat. Wir können nur dabei helfen, dass das Gesetz seinen Lauf nimmt.«
Charles Dickens nickte auf staatsmännische Art und Weise. »Nun, Dodger, ich schätze, du solltest dem Constable deine Personalien geben, und natürlich kann ich als eine Stütze der Gesellschaft für dich bürgen. Wie Sie vermutlich wissen, Constable, ist Dodger der Mann, der den berüchtigten Sweeney Todd überwältigte. Und darf ich hinzufügen, wie sehr ich es bedauere, dass unser kleiner Ausflug so tragisch endete?«
Er seufzte. »Wer weiß, warum es die Verrückte auf diese arme, unglückliche Frau abgesehen hatte. Mir ist aufgefallen, Constable, dass die Tote einen wertvollen Goldring trug, ausgestattet mit einem herzoglichen Siegel. Ich möchte Sie bitten, den Ring als mögliches Indiz sicherzustellen, das bei den Ermittlungen von Bedeutung sein könnte. Andererseits …« Charlie sah erneut Disraeli an, der noch immer ziemlich erschüttert war. »Ich bin sicher, dass Sie und Ihre Vorgesetzten, sobald Sie sich eingehend mit den relevanten Fakten beschäftigt haben, dafür sorgen werden, dass diese bedauerliche Angelegenheit nicht zu unangebrachten Spekulationen führt, denn die Tatsachen sprechen ganz offensichtlich für sich.«
Er sah sich nach Zustimmung um. »Und nun können wir gehen, denke ich«, schloss er. »Obwohl einige von uns …«, bei diesen Worten richtete er einen bedeutungsvollen Blick auf Dodger, »… hierbleiben und das Eintreffen des Coroners abwarten sollten. Darf ich Sie ersuchen, Constable, ihn so bald wie möglich zu benachrichtigen?«
Dodger beobachtete erstaunt, wie der Polizist salutierte, ja, er salutierte und sagte: »Selbstverständlich, Mister Dickens.«
»Sehr gut«, erwiderte Charlie und fügte hinzu: »Aber Sie haben die Mörder hier, und an Ihrer Stelle würde ich sofort Bericht erstatten und den Wagen herkommen lassen. Wenn Sie gestatten, warte ich mit Mister Dodger und der Pistole, bis Sie mit Ihren Kollegen zurückkehren.« Er wandte sich an Mister Bazalgette. »Wie geht es Ihnen, Joseph?«
Der Ingenieur war ein wenig blass, sagte aber: »Um ganz ehrlich zu sein, Charlie, ich habe schon Schlimmeres gesehen.«
»Wären Sie dann so nett, dafür zu sorgen, dass Ben sicher nach Hause kommt? Die Sache scheint ihn ziemlich mitgenommen zu haben. Kein Wunder, denn es war nicht unbedingt die fröhliche kleine Erkundungstour, die wir uns erhofft hatten.«
Kurze Zeit später trafen zwei weitere Polizisten ein, und es folgten noch mehr, bis sich an dem Gully, wo der Ausflug in die Kanalisation begonnen hatte, eine kleine Menge bildete – es mussten noch mehr Polizisten gerufen werden, um die Leute zurückzuhalten. Die Beamten wechselten sich damit ab, in die Abwasserkanäle zu klettern, denn jeder von ihnen wollte seinen Enkeln etwas erzählen können. Bei den Zeitungen arbeiteten bereits die Druckerpressen; am kommenden Morgen würde Grausiger Mord! auf den Titelseiten stehen.
Für Dodger war es ein überaus seltsamer Abend. Er wurde mehrmals vernommen, von verschiedenen Polizisten, auf denen wiederum Charlies wachsamer Blick ruhte. Es war Dodger peinlich, dass ihm einige der Polizisten die Hand schütteln wollten, nicht weil er den Ausländer zur Strecke gebracht hatte – wer konnte schon eine junge Frau für einen gefährlichen Mörder halten? –, sondern wegen Mister Todd und weil er nun gleich in mehrfacher Hinsicht als Held dastand, trotz eines tragischen Todesfalls. Und die ganze Zeit über strich der Nebel über alles hinweg und veränderte still die Realitäten der Welt.
Sie brachten die Ausländerin und ihren Komplizen fort. Dann traf der Beamte des Coroners ein, und auch der Coroner selbst erschien, und es kamen Kutschen und Karren, und Charlie war überall, und schließlich wurde die Leiche der armen jungen Frau in einen Sarg gelegt, mit Bestimmungsort Lavender Hill.
Der Coroner, erzählte Charlie nachher, hielt den Fall für abgeschlossen, denn immerhin hatte das Mordopfer weder Freunde noch Verwandte, abgesehen von einem jungen Mann, der es ganz offensichtlich sehr geliebt hatte, und einer Dame, die so freundlich gewesen war, ihr Obdach zu gewähren und zu verhindern, dass sie wie so viele andere junge Frauen auf den falschen Weg geriet. Ja, ein abgeschlossener Fall, ganz klar, wenn auch einige Rätsel blieben.
Der Killer befand sich inzwischen hinter Schloss und Riegel, obwohl er – beziehungsweise sie – hartnäckig bestritt, auf irgendjemanden geschossen zu haben, eine Behauptung, die ihr Helfer bestätigte, der, darauf soll an diesem Punkt hingewiesen werden, offen über alles Auskunft erteilte, natürlich in der Hoffnung, seinen Hals zu retten.
Downing Street wurde benachrichtigt und erhielt, nachdem man das Siegel bemerkt hatte, den Ring für eine genaue Überprüfung, denn dies war ganz offensichtlich eine politische Angelegenheit. Und tatsächlich, das Wort politisch schien zusammen mit dem Nebel über diesem Fall zu schweben, als Warnung für alle Menschen guten Willens, mit der Botschaft, dass man sich besser zufriedengeben sollte, wenn auch die da oben zufrieden waren.
Inzwischen war es fast Mitternacht, und es waren nur noch Charlie und Dodger anwesend. Dodger wusste, warum er sich noch vor Ort befand, aber Charlie hatte seinen Artikel bereits dem Morning Chronicle zukommen lassen und hätte eigentlich längst nach Hause zurückgekehrt sein sollen.