»Nun, Sie brauchen mir nicht sofort eine Antwort zu geben, und ich schlage vor, Sie besprechen die Sache mit Ihrem Freund Mister Dickens, der als Journalist selbst so etwas wie eine Art Schlingel ist, wenn ich so sagen darf, und der, davon bin ich überzeugt, nur das Beste für Sie will. Was die Geschehnisse in der Kanalisation betrifft, Mister Dodger, gibt es einige beunruhigende Einzelheiten, die unter anderen Umständen eine genauere Untersuchung erfordert hätten, wäre da nicht die Tatsache, dass Sie den berüchtigten Ausländer zur Strecke gebracht haben, ein Umstand, der bei unseren europäischen Freunden auf große Erleichterung stoßen und ihnen gleichzeitig zeigen wird, was mit Mördern geschieht, die nach England zu kommen wagen. Ich nehme an, dass Sie mit einer Belohnung rechnen dürfen.«
Der weißhaarige Mann stand auf, wodurch die Anspannung im Zimmer schwand. Dodger sah die anderen lächeln, als der Mann, der ein wenig traurig wirkte, nun hinzufügte: »Es hat uns alle bestürzt, vom Tod der jungen Dame namens Simplicity zu erfahren, Mister Dodger, und ich möchte diese Gelegenheit nutzen, Ihnen mein Beileid auszusprechen.«
Dodger musterte den alten Mann, der vermutlich gar nicht so alt war und nur durch sein weißes Haar alt aussah. Er zweifelte nicht daran, dass das Gesicht vor ihm alles wusste oder zumindest so viel von allem wusste, wie man wissen konnte, und mit hundertprozentiger Sicherheit wusste es alles über die Verwendung des Nebels. Dies war ein Typ, dachte sich Dodger, dem auffallen musste, dass eine Frau, die man gerade erschossen hatte, nicht schon eine Woche lang tot sein konnte, miasmatische Effusionen hin oder her.
»Danke, Sir«, sagte er vorsichtig. »Die letzte Zeit ist nicht sehr angenehm gewesen. Ich habe daran gedacht, London für einige Zeit zu verlassen, um nicht ständig an meine Freundin erinnert zu werden.«
Und er weinte echte Tränen, was ganz einfach war, und es entsetzte ihn innerlich, und er fragte sich, ob es in dem jungen Mann namens Dodger etwas gab, das ganz und gar er selbst war, schlicht und rein, ohne das ganze Dodger-Drumherum. Tief in seiner Seele hoffte er, dass Simplicity den anständigen Dodger lieben und auf den Pfad der Tugend geleiten konnte, vorausgesetzt, er war nicht ganz so tugendhaft. Letztendlich drehte sich alles um den Nebel.
Er putzte sich die Nase mit einem weißen Taschentuch, das er geistesabwesend aus der Tasche eines anderen Herrn am Tisch gezogen hatte, und sagte: »Ich habe mir überlegt, nach York zu fahren, Sir, etwa für zwei Wochen.«
Dieser Hinweis bewirkte ein wenig Aufregung am Tisch, aber nach einer kurzen Diskussion kam man überein, dass Dodger, der ja kein Verbrechen begangen hatte – eher war das Gegenteil der Fall –, durchaus die Erlaubnis erhalten sollte, sich in York ein wenig zu entspannen, wenn er wollte.
Damit endete die Besprechung. Charlie legte Dodger die Hand auf den Arm, als sie den Raum verließen, und führte ihn recht schnell zu einem nahen Kaffeehaus, wo er sagte: »Mir scheint, alle Sünden sind vergeben, mein Freund, aber es ist natürlich äußerst schade, dass Miss Simplicity trotz deiner Bemühungen den Tod finden musste. Übrigens, wie geht es ihr?«
Dodger hatte etwas Derartiges erwartet, sah Charlie ausdruckslos an und erwiderte: »Simplicity ist tot, Charlie, wie du sehr wohl weißt.«
»O ja«, bestätigte Charlie und lächelte schief. »Wie dumm von mir, das zu vergessen!« Er lächelte erneut, und dann wurde sein Gesicht vollkommen leer. »Wir sehen uns bestimmt wieder, mein Freund. Ich muss sagen, in gewisser Weise war es ein Privileg, dich kennenzulernen. Über den Tod der armen Simplicity bin ich ebenso unglücklich, wie du es vielleicht bist. Welch ein tragisches Ende für eine junge Dame, um die sich kaum jemand kümmerte, abgesehen von dir. Und natürlich von Angela, die mir seltsam ungerührt erscheint. Ich bin sicher, dass du schon bald ein anderes Mädchen wie sie findest. Ja, ich könnte sogar darauf wetten.«
Dodger versuchte jeden Ausdruck aus seinem Gesicht zu verbannen, gab es dann aber auf, denn selbst der Ausdruckslosigkeit ließ sich etwas entnehmen. Er sah Charlie in die Augen und sagte langsam und deutlich: »Davon weiß ich leider nichts, Sir.« Und er zwinkerte.
Charlie lachte, und dann schüttelten sie sich die Hände und gingen getrennte Wege.
Am Tag nach der Besprechung verließ eine Kutsche London mit dem Ziel Bristol, an Bord eine bunte Mischung aus Fahrgästen. In diesem besonderen Fall aber hielt der Kutscher einen der Passagiere für den schlimmsten in diesem Jahr, und was die Sache noch unangenehmer machte, war der Umstand, dass es sich um eine Alte handelte, die mit brüchiger Stimme jammerte und sich dauernd über irgendetwas beschwerte: die Sitze, die Fahrt, das Wetter und vermutlich auch über die Mondphase. Als die Kutsche unterwegs für eine glücklicherweise recht schnelle Mahlzeit an einem Gasthaus anhielt, klagte die Alte nicht nur über jeden Teller, den man ihr vorsetzte, sondern auch über das Salz, das ihrer Meinung nach nicht salzig genug war. Außerdem setzte die zu stark nach Lavendel riechende alte Schachtel ständig einer jungen Dame zu, die offenbar ihre Enkeltochter war. Diese junge Frau lockerte die Atmosphäre in der Kutsche ein wenig auf, aber der Kutscher erinnerte sich vor allem an die zänkische Oma und war froh, als sie schließlich Bristol erreichten und er die Alte loswurde. Beim Aussteigen fiel sie fast aus der Kutsche, und natürlich beschwerte sie sich auch darüber.
Ein fröhlicher junger Mann besuchte kurze Zeit später einen Apotheker in Christmas Steps, in der Nähe des Stadtzentrums, und sprach mit ihm darüber, was sich mit Pigmenten und dergleichen anstellen ließ, und bei dem Gespräch fielen Worte wie Henna und Indigo. Wenig später mieteten eine hübsche junge Dame mit wundervollem rotem Haar und ein dunkelhaariger junger Mann eine Kutsche samt Kutscher, verließen die Stadt und fuhren zu den kargen grauen Mendip Hills, wo das Paar dem Kutscher mitteilte, dass es die Reise über die Mautstraße zum Pub von Star fortsetzen wolle, wo es eine Mahlzeit einnahm, die aus vorzüglichem Käse und so starkem Apfelwein bestand, dass man meinen konnte, er sei mit Löwenpisse aufgegossen worden. Er schien sehr lecker zu schmecken, denn selbst die junge Dame trank ein zweites halbes Pint von dem scharfen Zeug.
Am nächsten Tag ließ sich ein Mann im Pub, von Beruf Spediteur, von einer klimpernden Geldbörse dazu verleiten, das junge Paar zum kleinen Ort Axbridge auf der anderen Seite der Mendips zu bringen. Die beiden jungen Leute brachten die südlichen Hänge hinter sich und bezogen unweit der Wassermühle Quartier. Es war ein seltsames Arrangement, denn der junge Mann bestand darauf, dass die junge Dame im besten zur Verfügung stehenden Schlafzimmer unterkam, während er auf einer Strohmatratze vor der Tür schlief, unter einer Pferdedecke. Das führte zu gewissem Gerede bei den Frauen des Dorfs, wonach die Durchgebrannten (und dafür hielt man die beiden netten jungen Leute) darauf achteten, sehr vorsichtig zu sein, wie es anständigen Christen gebührte.
Ob anständige Christen oder nicht, sie waren tatsächlich vorsichtig. Wie durch Telepathie hatten sich Simplicity und Dodger geeinigt: Dieser Aufenthalt sollte ihnen beiden Gelegenheit geben, sich zu entspannen, Abstand zu gewinnen und sich an der Welt zu erfreuen. Und die Welt schien sich an ihnen zu erfreuen, denn sie gingen recht großzügig mit dem Geld um, und obwohl die junge Frau sehr bescheiden war, so wie es einer jungen Frau gebührte, nutzte sie jede Gelegenheit, mit anderen zu plaudern. Offenbar wollte sie unbedingt wie die Einheimischen sprechen lernen, mit ihrem Somerset-Akzent, den man vielleicht bukolisch nennen konnte, weil er so langsam war. Er war tatsächlich langsam, denn er betraf langsame Gesprächsinhalte wie Käse, Milch und die Jahreszeiten, wie Schmuggeln und das Brennen von feurigem Schnaps an Orten, die die Steuereinnehmer nicht aufzusuchen wagten – und an diesen Orten, wo die Sprache langsam blieb, konnten Denken und Tun sehr schnell sein.
Und Dodger lernte schnell, denn wer auf der Straße schwer von Begriff war, brachte es nicht weit. Zuerst bekam er Kopfschmerzen von einer Sprache, die sich um Korn und Kühe zu drehen schien, aber beim Lernen half ihm ein Getränk, das die Einheimischen Scrumpy nannten, und es dauerte nicht lange, bis er wie die anderen sprach. In seinem Kopf steckten plötzlich viele neue Worte, die für Uneingeweihte seltsam klangen, fast wie eine sanfte Melodie im Vergleich zu der harten, stakkatoartigen Sprache von London. Dodger dachte: Es gibt mehr Verkleidungsarten, als sich die Haare zu färben oder ein anderes Hemd anzuziehen.