Als er zur anderen Seite des Flusses zurückkehrte, fragte er sich, warum er dies alles unternahm, und das fragte sich vermutlich auch Onan, der einen der schönsten Tage seines Lebens erlebte – nie zuvor hatte er in einem Stück so lange und so weit laufen dürfen. Dodger fiel ein, dass es vielleicht eine Person gab, die ihm Antwort geben konnte. Das führte dazu, dass er erneut auf die Dienste eines Fährmanns zurückgriff und sich diesmal ein ganzes Stück stromaufwärts bringen ließ. Es folgten ein recht langer Fußweg zu Serendipitys Pension und dann eine Fahrt mit der Kutsche zum Anwesen einer gewissen Angela Burdett-Coutts. Die Tür wurde von einem überaus respektvollen Butler geöffnet, der sagte: »Guten Tag, Mister Dodger. Ich werde nachsehen, ob Miss Angela zu Hause ist.«
Angela erschien weniger als eine Minute später. Beim Kaffee berichtete Dodger von den Neuigkeiten und bat Serendipity, ihn in den Palast zu begleiten.
Serendipity nahm die Nachricht auf weibliche Art und Weise entgegen – sie geriet in Panik, weil sie nichts anzuziehen hatte. »Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, meine Liebe«, warf Angela munter ein. »Wir könnten meinem Schneider einen Besuch abstatten. Es ist zwar sehr kurzfristig, aber bestimmt lässt sich etwas bewerkstelligen.« Sie wandte sich an Dodger. »Wenn ich an Kleider denke, fallen mir Ringe ein, und deshalb wäre ich Ihnen dankbar, Mister Dodger, wenn Sie mir Ihre Absichten erklären könnten. Wenn ich richtig verstanden habe, sind Sie beide verlobt. Wann soll daraus eine Ehe werden, wenn ich fragen darf? Ich persönlich habe nie den Sinn von langen Verlobungen verstanden, aber könnte es vielleicht … Schwierigkeiten geben?«
Dodger hatte lange über Serendipity und eine Heirat nachgedacht. Offiziell – als Simplicity – war sie noch verheiratet, aber wie sie selbst gesagt hatte: Gott konnte bei der Hochzeit kaum zugegen gewesen sein, denn sonst hätte er nicht zugelassen, dass sich Liebe in etwas so Schreckliches verwandelte. Dodger hatte Solomon gefragt, und der alte Knabe hatte sich das Kinn gerieben, einige Male »Mmm« gebrummt und dann erwidert, dass ein Allmächtiger, an den zu glauben sich wirklich lohne, zweifellos diese Ansicht teilen würde. Und wenn nicht, würde Solomon es ihm erklären. Und Dodger hatte gesagt: »Ich weiß nicht, ob Gott in der Kanalisation war, aber die Lady bestimmt.«
Immerhin, dachte er, würde der betreffende Prinz sicher schweigen, und die einzigen anderen Zeugen für die elende Hochzeit waren Simplicity und der Ring gewesen. Der Ring war verschwunden, und Simplicity ruhte in einem Grab. Welche Hinweise gab es, dass Simplicity jemals gelebt hatte? In gewisser Weise handelte es sich um eine andere Art von Nebel, und in diesem Nebel, so dachte sich Dodger, fand man vielleicht einen Weg zu einem sonnenhellen Hochland.
Jetzt sagte er mit fester Stimme: »Simplicity war verheiratet. Aber Simplicity ist tot. Jetzt habe ich Serendipity, eine ganz andere Frau, und ich werde ihr helfen. Aber auch ich bin jemand anderer, und bevor wir heiraten, muss ich mir eine Arbeit suchen, eine gute obendrein. Zum Toshen gehe ich nur noch als Hobby. Aber ich weiß gar nicht, wo ich richtige Arbeit finden soll.«
An dieser Stelle zögerte er, denn Angelas Lächeln sprach Bände, blieb derzeit aber undeutbar für ihn. »Nun, wenn ich den Gerüchten Glauben schenken darf, junger Dodger«, sagte sie, »so würde es mich gar nicht wundern, wenn Sie schon bald einen freundlichen alten Mann mit weißem Haar wiedersähen, der Ihnen vielleicht einen Urlaub im Ausland ermöglichen möchte. Herzlichen Glückwunsch, junger Mann, und Ihnen ebenfalls, Miss Serendipity.«
Am folgenden Tag traf die Kutsche pünktlich mit Serendipity an Bord ein. Als sie wieder losrollte, sagte Solomon, der alles über diese Dinge zu wissen schien: »Es ist natürlich eine private Audienz. Aber denk daran, dass Ihre Majestät das Sagen hat. Sprich nur, wenn du dazu aufgefordert wirst. Unterbrich die Königin auf keinen Fall, und dies möchte ich eigens betonen: Werd nicht vertraulich mit ihr. Hast du verstanden?«
Einige dieser Hinweise erhielt er auf dem Weg durch den Palast, der für den anderen, den früheren Dodger das lohnendste Ziel gewesen wäre, das er jemals gesehen hatte. Selbst Angelas Villa wirkte im Vergleich zu dieser Pracht völlig unbedeutend. Ein Raum folgte dem anderen, und es war ein überwältigendes Panorama für einen ehemaligen Snakesman, doch Dodger sagte sich, dass es aussichtslos gewesen wäre. Niemand hatte einen Sack, der groß genug war, um alle die Gemälde und prachtvollen Stühle fortzubringen.
Dann plötzlich betraten sie einen weiteren Raum, und die Königin und Prinz Albert waren da, und Dodger bemerkte überall Lakaien, die ganz still standen, wie gute Diebe, denn Bewegung bemerkten Menschen schnell.
Dodger hatte noch nie das Wort surreal gehört, hätte es aber verwendet, als der besonders feierlich gekleidete Solomon sich vor der Königin so tief verbeugte, dass sein Haar fast den Boden berührte. Es knackte leise, gefolgt von plötzlicher Stille, und Solomon winkte Dodger verzweifelt zu, der sofort Bescheid wusste. Er trat vor, schenkte Ihrer Majestät ein aufgeregtes Lächeln, schlang die Arme um Solomon, drückte ihm ein Knie in den Rücken und zog, woraufhin Solomon wieder aufrecht stehen konnte. Dann hörte er sich zu seinem Kummer sagen: »Bitte, entschuldigen Sie, Euer Majestät, er verrenkt sich den Rücken, wenn er so was macht, aber kein Problem, ich hab ihn wieder eingerenkt.«
Eine ziemlich gut aussehende Frau, fand Dodger, und natürlich piekfein, ganz klar. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, aber Prinz Albert sah Dodger an wie jemand, der einen Kabeljau in seinem Schlafanzug gefunden hat. Dodger wich einen Schritt von Solomon zurück und versuchte, unsichtbar zu werden, und nach einigen Sekunden sagte die Königin: »Mister Cohen, es ist mir eine große Freude, Sie schließlich kennenzulernen. Ich habe viele Geschichten über Sie gehört.« In einem nicht ganz so königlichen Tonfall fügte sie hinzu: »Sie haben doch keine Schmerzen, oder?«
Solomon schluckte und erwiderte: »Es ist nichts beschädigt, Euer Majestät, abgesehen von meiner Selbstachtung, und darf ich sagen, dass einige der Geschichten, die über mich im Umlauf sind, nicht der Wahrheit entsprechen?«
»Der König von Schweden erzählt eine besonders hübsche Anekdote«, meinte Prinz Albert.
Solomon errötete unter seinem Bart – Dodger konnte es gerade so eben erkennen – und sagte: »Wenn es dabei um das Rennpferd in der Hütte geht, Euer Königliche Hoheit, so muss ich gestehen, dass sich die Geschichte tatsächlich so ereignet hat.«
»Dennoch ist es mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Sir«, sagte der Prinz. Er streckte Solomon die Hand entgegen, und Dodger beobachtete den Händedruck sehr genau und erkannte die freimaurerische Hand der Freiheit.
Die Königin sah ihren Gemahl an und sagte: »Nun, mein Lieber, das ist eine nette Überraschung für dich.« Es war ein freundlicher Satz, aber er enthielt auch einen Unterton, der darauf hinwies, dass zumindest dieses Gespräch beendet war. Sie wandte sich an Dodger und sagte: »Sie sind also Mister Dodger, ja? Wie ich hörte, werden Sie gut mit verzweifelten Kriminellen fertig. Es reden noch immer alle über Sweeney Todd. Das muss ein schrecklicher Tag für Sie gewesen sein.«
Dodger begriff, dass es vielleicht keine gute Antwort gewesen wäre, dies zu leugnen, obwohl jener Tag weniger schrecklich als erstaunlich gewesen war. Er suchte Zuflucht bei folgenden Worten: »Nun, Euer Majestät, da war er, da war ich, und da war das Rasiermesser, und das war’s eigentlich. Um ganz ehrlich zu sein, der arme Mann tat mir leid.«