»Das habe ich gehört«, sagte die Königin. »Es ist ein beunruhigender Gedanke, aber er gereicht Ihnen zur Ehre. Ich nehme an, die junge Dame neben Ihnen ist Ihre Verlobte, nicht wahr? Bitte kommen Sie näher, Miss Serendipity!«
Serendipity trat vor, und plötzlich fand sich Dodger außerhalb des Raums wieder. Er sah von oben darauf hinab und beobachtete, wie sich die Gesichter immer wieder veränderten. Und dann steckte er wieder in sich selbst, und alles war fröhlich, und jemand hatte gerade Tee gebracht, und die Anzeichen deuteten darauf hin, dass die Zusammenkunft zufriedenstellend verlief.
Wer würde es wagen, eine Königin zu belügen?, dachte er. Wie viel wusste sie? Was das betraf – wie gut war Prinz Albert informiert? Er stammte aus einem der deutschen Länder, nicht wahr? Doch dieser Gedanke führte Dodger zur Politik, und deshalb verscheuchte er ihn, und die Zeit kehrte zurück. Serendipity machte einen Knicks, der viel eleganter wirkte als Solomons Verbeugung, und alles schien gut zu sein.
»Wann soll die Hochzeit stattfinden, meine Liebe?«
Serendipity errötete und antwortete: »Dodger meint, dass er zuerst eine Arbeit finden muss, Euer Majestät. Deshalb wissen wir es noch nicht genau.«
»Bemerkenswert«, erwiderte die Königin. »Womit beschäftigen Sie sich, Mister Dodger, wenn Sie nicht gerade Verbrecher zur Strecke bringen?«
Dodger zögerte, und Solomon warf ein: »Er hilft mit, dass Abflüsse richtig funktionieren, Euer Majestät.«
Prinz Albert rollte mit den Augen und sagte: »Oh, Abflüsse. Die haben wir hier auch, und sie scheinen immer verstopft zu sein.«
Dodger öffnete den Mund, aber die Königin schien das Thema Abflüsse schnell beenden zu wollen und sagte rasch: »Nun, Sir, ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Arbeit, für die Sie sich schließlich entscheiden. Und jetzt …« Sie blickte zu einem Lakaien hinüber. »Wir glauben, dass Tapferkeit wie die Ihre belohnt werden sollte, und deshalb bitte ich Sie, vorzutreten und niederzuknien, mit einem Knie auf das Kissen dort, und es wäre vermutlich empfehlenswert, wenn Sie dabei den Hut abnähmen.« Ein Lakai näherte sich mit einem Schwert, einem sehr glänzenden noch dazu. Die Königin nahm es und sagte: »Wie lautet Ihr voller Name, Mister Dodger? Man hat mir mitgeteilt, dass Sie sich von Pip Stick verabschieden möchten.«
Dodger sah sie groß an, und dann sagte Serendipity: »Wenn Sie gestatten, Euer Majestät … Ich habe Jack immer für einen hübschen Namen gehalten.«
Jack Dodger, dachte Dodger. Es klang ein bisschen zu fein, warum auch immer. Die Königin richtete einen erwartungsvollen Blick auf ihn und sagte: »An Ihrer Stelle würde ich den Rat der jungen Dame beherzigen, Sir.« Sie sah Prinz Albert an und fügte hinzu: »Wie es alle vernünftigen Ehemänner tun sollten.«
Darauf konnte Dodger nur noch sagen: »O ja, danke.« Und dann strich ihm Luft über den Kopf, und das Schwert ruhte wieder in den Händen des Lakaien, und Sir Jack Dodger erhob sich.
»Du siehst irgendwie größer aus«, sagte Serendipity.
»In der Tat«, bestätigte die Königin. »Übrigens«, fuhr sie fort, »wie ich hörte, Sir Jack, haben Sie einen sehr intelligenten Hund.«
Dodger grinste. »O ja, Euer Majestät, Sie meinen Onan. Er ist ein guter Freund, aber natürlich konnten wir ihn nicht mitbringen.«
»Ganz recht«, sagte die Königin und räusperte sich. »Meinen Sie Onan, wie in der Bibel?«
Aus den Augenwinkeln beobachtete Dodger, wie Solomon einen Schritt zurückwich, aber er antwortete trotzdem: »O ja, Miss.«
»Warum haben Sie ihn so genannt?«
Nun, dachte Dodger, immerhin hat sie gefragt. Und so erklärte er es ihr[8], und die junge Königin sah ihren Gemahl an, dessen Gesicht ein Bild für die Götter war, und dann lachte sie und sagte: »Nun, wir sind amüsiert.«
Wie bei einem Uhrwerk verschwand der Tee so schnell, wie er gekommen war, und ein gewisses Signal gab zu erkennen, dass die Audienz ihr Ende erreicht hatte. Zutiefst erleichtert nahm Dodger Serendipity am Arm, führte sie fort und atmete auf, als sie den Raum verließen. Doch aus dem Aufatmen wurde Verlegenheit, denn der weißhaarige Mann, dem er schon einmal begegnet war, trat auf ihn zu und sagte: »Sir Jack, bitte, erlauben Sie mir, Ihnen als Erster zu gratulieren. Darf ich ein wenig von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen? Hatten Sie inzwischen Gelegenheit, über mein Angebot nachzudenken?«
»Er möchte, dass du ein Spion wirst«, murmelte Solomon hinter Dodger.
Der weißhaarige Mann stieß ein Geräusch aus, das wie »Ts, ts« klang, und er sagte: »Meine Güte, nein, Mister Cohen. Ein Spion, Sir? Gott bewahre! Ich versichere Ihnen: Die Regierung Ihrer Majestät hat nichts mit Spionen zu tun, o nein. Aber wir wissen Personen zu schätzen, die uns helfen, mehr über Zusammenhänge zu erfahren, für die wir uns … interessieren.«
Dodger nahm Serendipity zur Seite und fragte: »Was soll ich tun?«
»Ich denke, er will tatsächlich, dass du ein Spion wirst«, erwiderte Serendipity. »Man sieht es seinem Gesicht an, wenn er das Gegenteil behauptet. Mir scheint, für jemanden wie dich wäre es der ideale Beruf, obwohl du dann die eine oder andere Fremdsprache erlernen müsstest. Aber ich bin sicher, du kommst schnell damit zurecht. Ich spreche Französisch und Deutsch und kenne auch ein bisschen Latein und Griechisch. Es ist nicht allzu schwierig, wenn man sich ein wenig bemüht.«
Um nicht ganz so dumm dazustehen, sagte Dodger: »Oh, einige griechische Worte habe ich bereits gelernt. Sie lauten: Παρακαλώ μπορείτέ να μου πείτε που βρίσκονται η άτακτες κυρίες?«[9]
Serendipity lächelte und sagte: »Meine Güte, Dodger, du führst ein aufregendes Leben, nicht wahr?«
»Ich glaube«, erwiderte er, »das ist nur der Anfang, meine Liebe.«
Und so kam es, dass Jack Dodger zwei Monate später durch die Straßen von Paris schlenderte, verfolgt von der Gendarmerie. Er trug eine Tasche, die nicht nur Münzen und Anleihen enthielt, sondern auch ein Diadem, das einst Marie Antoinette gehört hatte und seiner Frau Serendipity sehr gut stehen würde, und – last but not least – die Pläne für einen ganz neuen Waffentyp. Überall erklangen Pfiffe, aber Dodger war nie dort, wo man ihn erwartete. Mit großer Genugtuung hatte er festgestellt, dass es auch bei den Franzmännern Abwasserkanäle gab, sogar ziemlich gute, was er von den Franzmännern gar nicht erwartet hätte, und so hopste, sprang und lief er zum sicheren geheimen Unterschlupf, den er am vergangenen Abend vorbereitet hatte, und vergnügte sich prächtig.
Danksagungen des Autors, Schwierigkeiten und Entschuldigungen, ohne Aufpreis mit Vokabeln und Gepflogenheiten
Die Handlung von Dodger ist im ersten Viertel von Königin Viktorias Herrschaft angesiedelt, in einer Zeit, als Heerscharen von Entrechteten nach London und in die anderen großen Städte kamen. Für die Armen – und die meisten Leute waren arm – war das Leben in London damals äußerst schwer. Traditionsgemäß scherte sich kaum jemand um alle jene Menschen, die in bitterer Armut leben mussten, doch schließlich gab es unter den Bessergestellten einige, die der Meinung waren, dass die Öffentlichkeit von dem Elend erfahren sollte. Zu diesen gehörten natürlich Charles Dickens und sein nicht ganz so bekannter Freund Henry Mayhew. Dickens ging auf indirekte Art und Weise vor, indem er die Realität in seinen Romanen aufzeigte, Henry Mayhew und seine Bundesgenossen jedoch publizierten die Fakten, sammelten Daten und legten statistische Übersichten an. Höchstpersönlich streifte Mayhew durch die Straßen, sprach mit kleinen Waisenmädchen, die Blumen verkauften, mit Markthändlern, alten Frauen und Arbeitern aller Art, unter ihnen Prostituierte. Nach und nach legte er so die schmutzige Schattenseite der reichsten und mächtigsten Stadt der Welt frei.
8
Bestimmt kennen sich viele meiner Leser mit der Bibel aus und sind daher mit der biblischen Figur Onan vertraut. Wenn nicht: Google oder irgendein Priester, vermutlich ein etwas verlegener, helfen Ihnen gern weiter.