Dodger wusste nicht, was er dazu sagen sollte, schaffte es aber, es trotzdem auszusprechen. »Du hast mir viel beigebracht, Opa. Du hast mir von der Lady und den Ratten erzählt. Also, spül dir den Geschmack der Kanalisation aus dem Mund, und dann bringe ich dich irgendwie fort von hier, an einen besseren Platz. Lass es uns wenigstens versuchen, bitte!«
»Die Mühe können wir uns sparen, Junge. Wenn du mich hochhebst … Ich fürchte, ich falle auseinander. Aber es wäre schön, wenn du noch ein wenig bei mir bleiben könntest.« In der Dunkelheit gluckerte es erneut, als Opa einen weiteren großen Schluck vom feurigen Brandy nahm, und dann fuhr er fort: »Du hast verdammt schnell gelernt, das muss ich dir lassen. Ich meine, die meisten Jungs, die ich hier unten sehe, haben einfach nicht den richtigen Riecher fürs Toshen. Aber du … Es war mir eine große Freude zu sehen, wie du’s immer besser hingekriegt hast, so wie einer der Professoren oben, die ihre Nase in Bücher stecken. Ich hab gesehen, wie du einen ganzen Berg von Scheiße angestarrt hast, und dann war da ein Funkeln in deinen Augen, als hättest du gewusst, dass sich darunter etwas Wertvolles verbarg. So machen wir’s, Junge. Wir finden Wertvolles in dem Zeug, das die Leute oben wegwerfen, das sie nicht mehr haben wollen. Und das gilt auch für Menschen. Ich hab dich toshen sehen, Junge, und da wusste ich sofort: Ihm liegt das Toshen im Blut, so wie mir.« Der Alte hustete, und die Glieder seines geschundenen Leibs bewegten sich in einem gespenstischen Tanz. »Ich weiß, wie man mich nennt, Dodger – König der Tosher. So wie ich das sehe, trittst du meine Nachfolge an, und du hast meinen Segen.« Die Überbleibsel des Munds lächelten. »Hab nie erfahren, wer dein Vater ist. Weißt du es, Junge?«
»Nein, Opa«, erwiderte Dodger. »Ich hab’s nie gewusst, und wahrscheinlich wusste es auch meine Mutter nicht. Ich weiß nicht mal, wer sie war.« Wasser tropfte von der Decke, als Dodger eine Zeit lang ins Leere blickte und dann sagte: »Aber du bist immer Opa für mich gewesen. Dich kenne ich, und wenn du mich nicht das Toshen gelehrt hättest, wüsste ich überhaupt nichts von all den besonderen Plätzen hier unten, wie dem Mahlstrom, dem Schlafzimmer der Königin, dem Goldenen Irrgarten, der Sovereign Street, dem Hier-geht’s-rund und Atme-leicht. O ja, der Platz hat mir mehrmals die Haut gerettet, als ich noch lernte! Danke dafür, Opa. Opa …? Opa!«
Dann bemerkte Dodger etwas in der Luft, vielleicht ein leises Geräusch, das eben noch da gewesen war und plötzlich aufgehört hatte. Aber etwas war noch immer da, und als sich Dodger vorbeugte, hörte er den letzten Atem einige letzte Worte hauchen, und er lauschte Opas Seele, die den Körper bereits verlassen hatte. »Ich sehe die Lady, Junge, ich sehe sie …«
Opa lächelte, und das Lächeln verblasste erst, als das Licht aus seinen Augen verschwand. Dodger beugte sich vor, öffnete respektvoll die Hand des Toten und nahm sein Erbe entgegen, das ihm der Alte ausdrücklich vermacht hatte. Zwei Münzen legte er Opa auf die Augen, denn das musste sein, weil es der Tradition entsprach. Dann blickte er ins Dunkel und sprach: »Lady, ich schicke dir Opa, einen anständigen alten Typen, der mir alles Wissenswerte übers Toshen beibrachte. Versuch bitte, ihn nicht zu verärgern, denn er kennt einige üble Flüche.«
Dodger verließ die Kanalisation, als wären alle Dämonen der Hölle hinter ihm her. Er befürchtete, dass sie es tatsächlich auf ihn abgesehen haben könnten, und rannte die kurze Strecke nach Seven Dials und in die vergleichsweise Sicherheit der kleinen Mietshausmansarde, die Solomon Cohen als Heim und Werkstatt diente. Sie befand sich am Ende einer langen Treppe und gewährte ihm von weit oben einen Blick auf Dinge, die er wahrscheinlich gar nicht sehen wollte.
3
Dodger bekommt einen Anzug, der an einer empfindlichen Stelle zwickt, und Solomon kriegt die Wut
Es regnete wieder, als Dodger die Mansarde erreichte – ein grässlicher, trister Nieselregen fiel auf die Stadt. Er wartete draußen, während Solomon mit dem komplizierten Vorgang des Aufschließens begann. Als die Tür schließlich aufschwang, stürmte Dodger so schnell hindurch, dass er den alten Mann in Drehung versetzte. Solomon war klug genug, den feuchten, recht streng riechenden Dodger hinten in der Mansarde auf der alten Strohmatratze liegen zu lassen, bis jener bereit war, wieder lebendig zu werden und nicht nur ein Bündel Kummer zu sein. Dann erhitzte Solomon, der wie sein Namensvetter recht weise war, ein wenig Suppe, deren Geruch den Raum erfüllte – bis Onan, der friedlich neben seinem Herrchen geschlafen hatte, erwachte und winselte, was nach einem schrecklichen Korken klang, der aus einer furchtbaren Flasche gezogen wurde.
Dodger entrollte sich und nahm dankbar die Suppe entgegen, die Solomon ihm wortlos reichte. Anschließend kehrte der alte Mann zu seinem Werktisch mit der pedalbetriebenen Drehbank zurück, und kurz darauf erklang ein gemütliches, geschäftiges Summen, das Dodger an Heuschrecken auf einer Wiese erinnerte, wenn er jemals eine Heuschrecke – oder eine Wiese – gesehen hätte. Wofür man es auch halten mochte, es war beruhigend, und während die Suppe ihr Erholungswerk vollbrachte und die Heuschrecken tanzten, erzählte Dodger dem alten Mann, nun, alles: über die junge Dame, über Charlie, über Missus Quickly und auch über Opa. Solomon sagte nicht ein Wort, bis Dodgers Worte versiegten, dann murmelte er: »Du hast eine ereignisreiche Nacht hinter dir, mein Junge, und um deinen Opa tut es mir leid mmm, möge seine Seele in Frieden ruhen.«
»Aber ich habe ihn dort unten zurückgelassen, wo er von den Ratten gefressen wird!«, jammerte Dodger. »Er hat es so verlangt.«
Manchmal sprach Solomon, als wäre er gerade erwacht und erinnere sich an etwas. Ein sonderbares Brummen, das wie mmm klang und dem Zirpen eines kleinen Vogels ähnelte, kündigte die nächsten Worte an. Dodger hatte nie richtig begriffen, wofür dieses mmm stand. Es war ein freundlicher Laut, der Solomon vielleicht Zeit gewährte, sich auf den nächsten Gedanken vorzubereiten. Nach einer Weile gewöhnte man sich daran und vermisste das Geräusch, wenn es fehlte.
Solomon sagte jetzt: »Mmm, ist das besser oder schlimmer, als von Würmern gefressen zu werden? Darin besteht leider unser aller Schicksal. Du bist bei ihm gewesen, als er starb mmm, als sein Freund? Das ist gut. Ich bin dem Herrn einmal begegnet und schätze, dass er mmm etwa dreiunddreißig gewesen sein müsste. Ein gutes Alter für einen Tosher, und wie du sagst, hat er seine Lady gesehen. Zu meinem großen Bedauern bin ich schon vierundfünfzig, aber dankenswerterweise bei guter Gesundheit. Du kannst von Glück reden, dass du mich getroffen hast, Dodger, so wie ich mich glücklich schätze, deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Du achtest auf Sauberkeit und bist vernünftig genug, Geld beiseitezulegen. Wir kochen das Wasser, bevor wir es trinken, und ich stelle zufrieden fest, dass du mmm von mir auch gelernt hast, die Zähne zu putzen, was ein Grund dafür sein dürfte, dass du noch Zähne hast. Opa ist gestorben, wie er gelebt hat, und du wirst ihn in liebevoller Erinnerung behalten, aber nicht übermäßig trauern. Tosher sterben jung. Was sollte man sonst von Leuten erwarten, die ihr halbes Leben lang im Dreck wühlen? Jüdische Tosher gibt es nicht – als Tosher kann man nicht koscher leben. Behalte deinen Opa in guter Erinnerung und lerne, was du von seinem Leben und auch seinem Tod lernen kannst.« Und die Heuschrecken tanzten weiter und summten dabei.
Dodger hörte einen Kampf irgendwo unten auf der Straße. Es wurde ständig irgendwo gekämpft, hauptsächlich deshalb, weil die vielen Menschen in diesen elenden, schmutzigen Slums nicht nur den Rand der Verzweiflung erreichten, sondern darüber hinweg in den Abgrund ohnmächtigen Zorns stürzten. Angeblich lag es daran, dass die Leute tranken, hatte Dodger gehört, aber man musste Bier trinken. Ja, zu viel davon machte betrunken, aber andererseits: Wasser von der Pumpe konnte einen tot machen, wenn man es nicht vorher kochte und Geld genug für Kohle oder Holz hatte. Das musste warten und kam erst an dritter Stelle, hinter Essen und Bier (beziehungsweise hinter Bier und Essen).