»Hab keine Angst, Jared.« Eine sanfte Frauenstimme brach das tiefe Schweigen. »Wir haben nur vergessen, wie man alles in Ordnung hält.«
Ihr Tonfall klang beruhigend und vertraut, zugleich aber fremd und aufschreckend. Er schickte harte, deutliche Klicktöne hinaus. Das aus der Nähe wiederkehrende Bild vermittelte den Eindruck einer Silhouette — als höre er die Frau nur durch mehrfach zurückgeworfene Echos. Ihre Gesichtszüge blieben unverändert, aber nicht zu erkennen. Und als er die Hand ausstreckte, war sie nicht da. Und doch sprach sie ihn an. »Es ist ja so lange her, Jared! Alle Einzelheiten sind verschwunden.«
Zögernd trat er näher. »Gute Frau?«
Und er spürte ihr Lächeln. »Das klingt so — steif.«
Augenblicklich tauchte eine ganze Schar von vergessenen Kindheitserinnerungen auf. »Aber ihr — seid doch gar nicht wirklich! Du und der Kleine Lauscher und der Ewige Mann — wie könnt ihr etwas anderes sein als ein Traum?«
»Horch, Jared. Klingt das wirklich?«
Der hängende Stein regte sich noch immer. Fels berührte seinen Arm, als die rechte Wand herandrängte, sich wieder entfernte.
Dann träumte er also nur — wie er vor vielen Perioden so oft geträumt hatte. Er erinnerte sich wehmütig daran, wie ihn die Gute bei der Hand genommen und fortgeführt hatte. Er konnte die Hand nicht immer fühlen. Und sie führte ihn auch in Wirklichkeit nicht fort, weil er die ganze Zeit schlafend auf seiner Bank lag.
Aber plötzlich sprang er im vertrauten Tunnel oder in einer nahen Welt mit dem Kleinen Lauscher umher, dem Jungen, der nur die unhörbaren Laute winziger Insekten vernahm. Und die Gute Frau erklärte: »Wir beide, Jared, du und ich, können den Lauscher vor der Einsamkeit bewahren. Denk nur, wie schrecklich seine Welt ist — totenstill! Aber ich kann ihn und dich in diesen Tunnel bringen. Wenn ich es tue, ist es, als wäre er nicht mehr taub. Und ihr könnt miteinander spielen.«
Jared war jetzt wieder ganz in dem vertraut-fremden Tunnel.
Und die Gute Frau sagte: »Der Kleine Lauscher ist jetzt ein erwachsener Mann. Du würdest ihn nicht wiedererkennen.«
Verwirrt erwiderte Jared: »Traumwesen werden nicht älter!«
»Wir sind keine Traumwesen!«
»Wo ist der Lauscher?« fragte er skeptisch. »Laß ihn hören.«
»Ihm und dem Ewigen Mann geht es gut. Der Ewige Mann ist aber sehr alt geworden. Er ist eigentlich gar nicht ewig, weißt du — nur beinahe. Aber wir haben keine Zeit, sie zu hören. Ich mache mir Sorgen um dich, Jared. Du mußt aufwachen!«
Einen Augenblick lang kam es ihm vor, als bräche er aus dem Traum aus. Aber dann kehrten seine Gedanken ruhig in die Kindheit zurück. Er erinnerte sich, wie die Gute Frau gesagt hatte, daß er der einzige sei, den sie erreichen könne — und auch nur dann, wenn er schlafe. Aber er hörte nicht auf, anderen Leuten von ihr zu erzählen. Und sie habe Angst, weil sie wisse, daß sich andere zu fragen begännen, ob er nicht zu den Andersartigen gehöre. Sie wolle nicht, daß er das Schicksal aller Andersartigen teilen müsse. Deswegen käme sie nicht mehr.
»Du mußt aufwachen, Jared!« unterbrach sie seine Erinnerungen. »Du bist verletzt und warst zu lange bewußtlos.«
»Nur deswegen bist du wiedergekommen — um mich zu wecken?«
»Nein. Ich will dich vor den Ungeheuern und all den Träumen warnen, die du nicht loswirst, wie ich höre — Träume von der Jagd nach Licht. Die Ungeheuer sind abscheulich und böse. Ich habe in das Gehirn eines der Monstren geblickt. Es war so voll von entsetzlichen, fremdartigen Dingen, daß ich es kaum den Bruchteil eines Herzschlags aushielt!«
»Es gibt mehr als nur ein Ungeheuer?«
»Sehr viele sogar.«
»Und wie steht es mit der Suche nach Licht?«
»Hörst du denn nicht, Jared, daß du nur hinter Träumen herjagst? Es gibt keine Dunkelheit, kein Licht, wie du sie dir vorstellst. Du versuchst nur, der Verantwortung zu entfliehen. Du mußt an deine Pflichten als Überlebender, an die Verbindung denken — an Dinge, die wirklich etwas bedeuten!«
Er war immer davon überzeugt gewesen, daß seine Mutter der Guten Frau geglichen hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre.
Er wollte ihr antworten. Aber sie war nicht mehr da.
Jared rollte auf einer weichen Mannafibermatratze zur Seite, spürte eine Bandage am Kopf.
Von irgendwoher drang eine väterliche Stimme, monoton die üblichen Erklärungen gebend:
»… Hier stehen wir unter dem Echowerfer, mein Sohn. Hörst du, wie laut er klingt? Achte auf die Richtung der Töne — schnurgerade nach oben. Wir befinden uns im Mittelpunkt der Welt. Horch, wie die Echos praktisch zur gleichen Zeit von allen Wänden zurückkommen. Komm hierher, mein Junge…«
Jared stützte sich mühsam auf einen Ellbogen, aber jemand nahm ihn bei den Schultern und ließ ihn auf die Matratze zurückgleiten.
Es war der Berater Lorenz, der seinen Kopf abwandte und flüsterte: »Geh zum Boß und teile ihm mit, daß er zu sich kommt.«
Jared fing Dellas Duft auf, als sie die Grotte verließ. Er war überlagert von vielen schwereren Gerüchen, die ihm verrieten, daß er sich in Anselms Grotte befand.
Von draußen drangen die Erklärungen des lehrenden Vaters herein und störten Jared bei dem Bemühen, sich zurechtzufinden.
»… Dort, unmittelbar vor dir, mein Sohn — hörst du diesen leeren Raum im Lautmuster? Das ist der Eingang zu unserer Welt. Jetzt gehen wir zum Geflügelhof. Vorsichtig, mein Junge! Fünf Schritte vor dir befindet sich eine Auswulstung. Bleib stehen. Befühle sie. Merke dir Form und Größe. Bemühe dich, sie zu hören. Präge dir genau ein, wo sie sich befindet. Dann kannst du dir manchen blauen Fleck ersparen…«
Jared versuchte, die störende Stimme auszuschalten und seine Gedanken zu sammeln. Aber die Nachwirkungen seines Traumes ließen sich nicht abschütteln.
Sehr seltsam, daß die Gute Frau ganz plötzlich aus seinen vergessenen Phantasien auftauchte, als hätte er in den Abgrund seiner Vergangenheit hinabgegriffen und ein Stück seiner Kindheit heraufgeholt. Aber er wußte, was er von dem Trugbild zu halten hatte — es war nicht mehr als der Ausdruck einer Sehnsucht nach der Sicherheit, an der es ihm gebrach, seit ihn sein Vater bei der Hand genommen und ihm seine Welt erklärt hatte, wie es jetzt ein aufmerksamer Vater draußen vor der Grotte tat.
»Was, um Strahlungs willen, ist passiert?« stieß er hervor.
»Ein Speer hat Sie mit der Breitseite an der Schläfe erwischt«, erwiderte Lorenz. »Sie sind eine ganze Periode lang weggewesen.«
Plötzlich fiel ihm alles ein. »Das Ungeheuer! Die Zerver!«
»Sie sind fort — alle.«
»Was ist geschehen?«
»Soweit wir feststellen konnten, hat das Ungeheuer am Eingang einen Zerver verschleppt. Zwei andere Zerver versuchten ihn zu retten. Aber sie brachen zusammen, bevor sie das Ungeheuer erreichen konnten.«
Klicks vom Echowerfer drangen durch die halbgerafften Vorhänge herein und wurden vom Gesicht des Beraters zurückgeworfen, seine besorgte Miene deutlich zeigend. Noch etwas anderes war zwischen den Runzeln verborgen, verlieh den geschlossenen Lidern den Ausdruck noch stärkerer Anspannung — ein verlegenes Zögern. Der Berater schien sich zu überlegen, ob er etwas Bestimmtes aussprechen sollte.
Jared machte sich jedoch größere Sorgen wegen des Eindringens des Ungeheuers im Oberen Schacht. Bislang hatte er die Barriere für stark genug gehalten, die Bestie zurückzuhalten. Er war der Meinung, daß er und Owen zu Recht für die Verletzung der Tabus bestraft worden waren. Aber damit konnte ja die Angelegenheit nicht erledigt sein. Das Ungeheuer hatte vielmehr die Barriere überstiegen, um eine Welt der Menschen zu betreten. Und wieder fragte sich Jared, ob er nicht die Verantwortung trug. Er hatte doch die Ursprungswelt zuerst betreten, nicht wahr? Und hatte nicht das Ungeheuer einen passenden Zeitpunkt für den Überfall gewählt — gerade eben, als Jared sich einer Blasphemie schuldig machte, indem er daran dachte, seine Suche nach Licht wieder aufzunehmen?