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Er erreichte Jared und blieb stehen, wobei er sich vergeblich bemühte, die Stimme ins Baßregister sinken zu lassen. »Von all den Dingen unserer Welt ist nur unsere Heilige Birne jemals Licht nahe gekommen. Berühre sie.« Und als Jared zögerte, noch einmal, ganz laut: »Berühre sie!«

Er streckte widerwillig die Hand aus und berührte die runde, kalte Oberfläche. In weit übertriebenem Maße hatte sie dieselbe Form wie die Miniaturbirne in dem Gegenstand, den die Ungeheuer im Oberen Schacht verloren hatten. Und er fragte sich…

Aber dann schob er den Gedanken beiseite. War es nicht seine eigene Neugierde, der die beiden Welten diese Krise zu verdanken hatten?

Der Kustos ging weiter, schwankend und rufend. »Manche leugnen, daß das Licht jemals in dieser Reliquie geweilt habe. Sie tragen die Schuld am Zorn des Allmächtigen.«

Jared senkte den Kopf; er spürte, daß es vielen Umstehenden leichtfallen mußte, jene Person zu identifizieren, der diese Beschuldigung galt.

»Die geistige Herausforderung richtet sich an jeden einzelnen«, kam der Kustos zum Schluß. »Die Echos sind deutlich genug. Wenn wir nicht für unsere Sünden büßen wollen, haben wir damit zu rechnen, daß dasselbe Allmächtige Licht, das die Überlebenden verbannt hat, auch die Macht besitzt, sie endgültig zu vernichten!«

Er verwahrte die Heilige Birne wieder in der Nische und wandte sich mit ausgebreiteten Armen der Versammlung zu. Eine ältere Frau trat vor, und Jared lauschte den Händen Philars, die den abschließenden Ritus vollzogen.

»Spürst du Es?« fragte der Kustos.

Die Frau verneinte enttäuscht und ging weiter.

»Geduld, meine Tochter. Alle, die gegen die Dunkelheit kämpfen, dürfen darauf hoffen.«

Eine andere Überlebende, zwei Kinder und ein Überlebender traten zum Kustos, bevor im Ritus der Erregung des optischen Nervs die erste positive Reaktion eintrat. Sie kam von einer jungen Frau. Als der Kustos die vor ihrem Gesicht hängenden Haare geteilt und mit den Fingerspitzen ihre Augäpfel berührt hatte, rief sie ekstatisch: »Ich spüre Es! Oh, ich spüre Es!« Der Kustos strich ihr anerkennend über den Kopf und wandte sich der nächsten Person zu.

Jared wartete als letzter in der Reihe. Er gestattete sich nicht die Meinung, jene Personen, die der Empfindung teilhaftig wurden, spürten vielleicht nichts anderes als einen besonderen Druck der Hände des Kustos, er bemühte sich vielmehr, aufnahmefähig zu bleiben, damit seine erstmalige Teilnahme an diesem Ritus nicht durch ein seit langem bestehendes Vorurteil beeinflußt wurde.

Als er an die Reihe kam, hatten die anderen den Versammlungsplatz verlassen. Nur er und der Kustos blieben zurück. Während er mit gesenktem Kopf wartete, lauschte er Philars strenger Miene. Der Kustos verhehlte seine Ansicht nicht, daß Jareds flagrante Mißachtung der Barriere für das über die Untere Welt hereingebrochene Unglück verantwortlich war.

Knochige Hände berührten Jareds Gesicht, glitten über die Wangen zu den Augen. Dann preßten sich Fingernägel an die weichen Stellen an den unteren Lidern.

Zuerst spürte Jared — nichts. Dann übten die Finger des Kustos einen beinahe schmerzhaften Druck aus.

»Spürst du Es?« sagte Philar.

Aber Jared verharrte regungslos und staunend. Zwei verschwommene Ringe lautlosen Schalls tanzten in seinem Kopf. Er spürte sie nicht dort, wo der Kustos den Druck ausübte, sondern irgendwo in der oberen Hälfte seiner Augäpfel. Es war dieselbe Empfindung, die ihn in Gegenwart der Ungeheuer überfallen hatte!

Sollte er wirklich am Allmächtigen Licht teilhaben? Warum fühlte er dann die Gegenwart des Allmächtigen, wenn er den Zwillingsteufeln nahe war? Warum zeigte sich das Gute auch bei den Ungeheuern?

Jared unterdrückte die profanen Gedanken, vertrieb sie aus seinem Verstand, zusammen mit der Erinnerung daran, daß er sie jemals gehegt hatte.

Fasziniert lauschte er den tanzenden Ringen. Sie erschienen mehr oder weniger deutlich, je nach der Veränderung des Druckpunktes durch den Kustos.

»Fühlst du Es?«

»Ich fühle Es«, gestand Jared mit schwacher Stimme.

»Ich habe nicht damit gerechnet«, sagte der andere etwas enttäuscht. »Aber ich höre gerne, daß noch Hoffnung für dich besteht.«

Er trat zu einer Steinbank unter der Nische der Heiligen Birne und setzte sich. Seine Stimme verlor ein wenig an Schärfe. »Wir haben hierüber nicht viel von dir gehört, Jared. Dein Vater macht sich Sorgen darüber, und ich kann ihn gut verstehen. Früher oder später wird das Schicksal dieser Welt in deiner Hand liegen. Ist es eine gute Hand?«

Jared setzte sich neben ihn, mit gesenktem Kopf. »Ich habe Es gespürt«, murmelte er. »Ich habe Es gespürt.«

»Natürlich hast du das, mein Sohn.« Der Kustos legte ihm die Hand auf den Arm. »Du hättest Es früher fühlen können, weißt du. Und vieles wäre anders geworden, für dich — wie vielleicht für die ganze Welt.«

»Habe ich das Versiegen der Quellen verschuldet?«

»Nichts erzürnt das Allmächtige mehr als die Verletzung des Barrieretabus.«

Jared klammerte sich an den anderen. »Was soll ich tun?«

»Du kannst büßen. Dann werden wir hören, was geschieht.«

»Aber Ihr versteht nicht. Es liegt nicht nur an der Mißachtung der Barriere! Ich dachte, das Licht sei vielleicht gar nicht allmächtig, es sei —«

»Ich verstehe dich, mein Sohn. Du hattest deine Zweifel, wie andere Überlebende sie von Zeit zu Zeit haben. Aber vergiß nicht — auf lange Sicht wird man nicht nach seiner Skepsis beurteilt. Das wahre Maß eines bekehrten Überlebenden ist die Aufrichtigkeit, mit der er seinem Unglauben abschwört.«

»Werde ich denn so viel Aufrichtigkeit in mir finden können?«

»Ich bin überzeugt davon — seit diesem Gespräch. Und ich bezweifle nicht, daß du bereit wärest, wenn die versprochene Vereinigung mit Licht in deinem Leben noch eintreten sollte.«

Der Kustos lauschte der Unendlichkeit. »Wie herrlich wird es dann werden, Jared — Licht überall um uns, alles berührend, ständige Gemeinsamkeit mit dem Allmächtigen, dem Menschen volle Erkenntnis bringend. Und die Dunkelheit wird völlig ausgelöscht sein.«

Jared verbrachte den Rest der Wachperiode in der Zurückgezogenheit seiner Grotte. Er dachte jedoch nicht über die bevorstehende Verbindung mit Della nach. Statt dessen prüfte er seine neuen Überzeugungen, davor zurückschreckend, sich irgendeinen Gedanken zu erlauben, der das Allmächtige beleidigen konnte.

Er schwor seiner Suche nach Dunkelheit und Licht ab, ohne sich auch nur dem geringsten Bedauern darüber hinzugeben. Und er beschloß, nie mehr die Barriere zu übersteigen.

Im fest fundierten neuen Glauben entspannte er sich mit der Überzeugung, alles würde gut verlaufen — geistig und physisch. Er war so sehr davon überzeugt, das Richtige getan zu haben, daß ihn die Nachricht vom Wiedererstehen der zwölf ausgetrockneten Quellen nicht überrascht hätte. Es schien ihm, als habe er mit dem Licht einen feierlichen Bund geschlossen. Er bekräftigte seine Überzeugung nochmals, als der Primär eintrat. »Der Kustos berichtete mir eben, daß du den Laut gehört hast, mein Sohn.«

»Ich höre viele Dinge, die mir vorher entgangen waren.« Die ernsthaft gesprochenen Worte reflektierten im Gesicht seines Vaters ein gütiges, anerkennendes Lächeln.

»Ich habe lange auf diese Worte gewartet, Jared. Jetzt endlich kann ich meine Pläne ausführen.«

»Welche Pläne?«

»Diese Welt braucht junge, lebendige Führerschaft. Sie hat ihr schon gefehlt, bevor die Quellen versiegten. Angesichts der Herausforderung, der wir gegenüberstehen, benötigen wir den Ideenreichtum eines jugendlichen Anführers um so mehr.«