Als seien Manys Worte dazu ausersehen, die Prophezeiung Philars zu erfüllen, drangen in diesem Augenblick erschreckte Stimmen durch den Vorhang.
Jared stürzte hinaus und hielt einen der vorbeieilenden Männer auf. »Was gibt es denn?«
»Der Fluß! Er versiegt!«
Bevor er noch das Ufer erreichte, zeigten die Echos des Zentralgeräts deutlich die Situation. Der Wasserstand des Flusses war so rapide gesunken, daß die flüssige Weichheit der reflektierten Laute in der Echoleere unterhalb des Ufers völlig verborgen blieb. Man hörte nur noch das schwache Gurgeln des Wassers an Felsblöcken, die bis zu diesem Augenblick unter dem Wasserspiegel gelegen hatten.
Ein entsetzter Aufschrei klang vom Eingang herüber. Jared eilte sofort dorthin.
Da sich der Echowerfer jetzt hinter ihm befand, konnte er die Situation besser ausmachen. Die Wachen am Eingang zum Tunnel waren völlig durcheinander.
»Das Ungeheuer!« schrie jemand.
Jared blieb abrupt stehen, als der lautlose Lärm des Ungeheuers den ganzen Tunnel dröhnend erfüllte. Die Empfindungen, denen er sich ausgesetzt sah, glichen denen des Erregungsritus, allerdings tausendfach verstärkt. Aber hier berührten keine Ringe unhörbaren Schalls seine Augäpfel, wie unter der Berührung der Finger Philars. Statt dessen war die kreischende Stille wie etwas Losgelöstes, Unpersönliches — als habe es gar nicht persönlich mit ihm zu tun, sondern mit der Mündung des Tunnels.
Mehr noch, die Geräuschlosigkeit breitete sich aus, wie der echte Schall, und berührte viele Dinge — die Kuppel, die Wand zu seiner Rechten, die hängenden Steine neben dem Eingang.
Er schlug die Hände vors Gesicht und setzte seinen Weg fort. Das schwache, flüsternde Dröhnen verschwand sofort. Hier war also der Beweis — das Unheimliche übte Druck auf seine Augen aus!
Jetzt konnte er sich auf die ihm entgegendringenden Echos konzentrieren. Im Eingang befand sich kein Ungeheuer. Der Geruch bewies jedoch, daß sich bis vor wenigen Augenblicken eine Bestie hier aufgehalten haben mußte. Sein Gehör verriet ihm, daß auf dem Boden des Tunnels ein röhrenförmiger Gegenstand lag. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er, daß er dem Gegenstand glich, den Della im Oberen Schacht gefunden hatte.
Gerade als er den Eingang erreichte, hob eine der Wachen einen Stein und rannte auf die Röhre zu.
»Nein! Nicht!« schrie Jared.
Der Wächter schleuderte den Stein.
Jared ließ die Hände von den Augen sinken und tastete nach den Überresten des Objekts. Es war warm und klapperte, als er es schüttelte.
Er bemerkte auch, daß von der kreischenden Stille nichts mehr zu spüren war.
7
Alleinstehend und von den verwitweten Frauen des Unteren Schachtes mit allem Nötigen versorgt, konnte Cyrus sich seinen Meditationen hingeben. Ergab sich jedoch die Gelegenheit zur Äußerung, so machte Cyrus die lange Zeit des Schweigens mehr als wett.
Jetzt, zum Beispiel, ließ sich der Denker zu zahlreichen Themen vernehmen, beinahe in einem Atem, wie es schien:
»Jared Fenton! Primär Jared Fenton, noch dazu! Erscheint hier zu einer Unterhaltung — wie in alter Zeit!«
Jared rutschte ungeduldig auf der Bank hin und her. »Ich wollte mich erkundigen —«
»Aber ich fürchte, du weißt vor Arbeit nicht mehr, wo dir der Kopf steht — mit den versiegenden Quellen und den Ungeheuern, die in den Tunnels auftauchen. Hast du dir schon überlegt, was du gegen das Versiegen des Flusses unternehmen willst? Und der Gegenstand, den das Ungeheuer gestern zurückließ — wofür hältst du ihn?«
»Ich habe das Gefühl —«
»Halt! Darüber möchte ich zuerst ein wenig nachdenken.«
Jared war für die kurze Stille mehr als dankbar. Sie verschaffte seinem dröhnenden Kopf Erleichterung, der bei jedem Hustenanfall wie eine Mannahülse auseinanderzuplatzen drohte. Er hatte auch früher an Fieber gelitten — nach dem Biß einer Spinne, zum Beispiel. Aber so wie jetzt war es nie gewesen.
Cyrus' Grotte war durch schwere Vorhänge gegen den Lärm der Welt weitgehend abgeschirmt. Aber die Höhle war so klein, daß Jared mit Hilfe der Echos seiner Worte keine Schwierigkeit hatte, festzustellen, welche Veränderung mit dem Denker vorgegangen war.
Der alte Mann hatte glücklicherweise niemals eine Vorliebe für wallendes Haar als Schutz vor dem Gesicht besessen. Jetzt war er nämlich völlig kahl. Und die Runzeln, hervorgerufen von lebenslanger Muskelanspannung, um die Augen geschlossen zu halten, waren noch tiefer eingegraben.
»Ich habe mir gerade überlegt, ob das Ungeheuer den Gegenstand absichtlich am Eingang zurückgelassen haben könnte«, erklärte Cyrus sein Schweigen. »Ich bin sogar davon überzeugt. Was meinst du?«
»So kam es mir auch vor.«
»Und welchen Zweck sollte das wohl erfüllen?«
Jared lauschte den Stimmen, die drüben auf der anderen Seite die Litanei des Lichts sangen. Auch die Unterhaltung seiner Eskorte, die ihn draußen erwartete, um ihn in den Oberen Schacht zu bringen, konnte man hören.
»Das ist eines von den Problemen, die ich mit dir besprechen wollte«, sagte er schließlich. »Erzähle mir von der Dunkelheit.«
»Dunkelheit? Darüber haben wir uns früher oft unterhalten, nicht wahr? Was möchtest du wissen?«
»Ist es möglich, daß die Dunkelheit mit« — Jared zögerte — »mit den Augen zusammenhängt?«
Ein paar Herzschläge später sagte der andere: »Nicht, daß ich wüßte — sicherlich hat sie damit nicht mehr zu tun als mit dem Knie oder dem kleinen Finger. Warum fragst du?«
»Ich bin zu der Meinung gekommen, daß sie in irgendeiner Weise dem Licht sehr nahesteht.«
Cyrus überlegte. »Allmächtiges Licht — unendliche Güte. Dunkelheit — das unendlich Böse, den Glaubenssätzen zufolge. Das Prinzip der relativen Gegensätze. Eines ohne das andere gibt es nicht. Ohne Dunkelheit wäre das Licht überall. Ja, man kann wohl sagen, daß es eine negative Beziehung gibt. Aber ich höre nicht, wo da die Augen hineinpassen würden.«
Hustend stand Jared auf; er schwankte unsicher unter der Einwirkung des Fiebers. »Hast du jemals die Erregung gefühlt?«
»Beim Ritus des optischen Nervs? Ja. Aber es ist schon sehr lange her.«
»Nun, bei diesem Ritus soll man angeblich Licht fühlen. Und wenn die Existenz des Lichts in negativer Weise von der Existenz der Dunkelheit abhängt, müssen die Augen doch auch darauf eingerichtet sein, die Dunkelheit zu spüren.«
Jared lauschte dem anderen, der sich nachdenklich übers Gesicht fuhr. »Klingt logisch«, gab der Denker zu.
»Wenn jemand die Dunkelheit fände, glaubst du dann, daß er auch —«
Aber Cyrus wollte den Lauf seiner Gedanken nicht unterbrechen. »Wenn wir über die Dunkelheit als körperlichen Begriff sprechen wollen, dann fragen wir uns: Was ist die Dunkelheit? Wir finden, daß sie ein allumfassendes Medium sein könnte — ich sage, könnte, weil es sich nur um eine Idee handelt. Das hätte zu bedeuten, daß sie überall existiert — in der Luft um uns, in den Tunnels, im Gestein, im Schlamm.«
Jared fror plötzlich, aber er konzentrierte sich auf die Worte des anderen.
»Punkt zwei«, fuhr Cyrus fort. »Wenn sie so allgemein ist, kann sie durch die Sinne überhaupt nicht erkannt werden.«
Enttäuscht sank Jared auf die Bank zurück. Wenn der Denker recht hatte, würde er die Dunkelheit niemals finden.
»Warum existiert sie dann eigentlich?«
»Es könnte das Medium sein, das den Schall weiterleitet.«
Sie schwiegen beide längere Zeit.
»Nein, Jared. Ich glaube nicht, daß du erwarten kannst, die Dunkelheit in diesem Universum zu finden.«
Eifrig fragte Jared: »Jenseits der Unendlichkeit könnte es weniger Dunkelheit geben?«
»Wenn du dabei an unser sogenanntes ›Paradies‹ denkst, können wir die Idee von der Dunkelheit als körperliches Medium aufgeben. In diesem Fall würde ich sagen — ja, im Paradies muß geringere Dunkelheit herrschen, da doch das Paradies von Licht erfüllt vorgestellt wird.«