»Wie stellst du dir das Paradies vor?«
Der Denker lachte. »Wenn man ein Ohr für die Glaubenssätze hat, wird man zugeben, daß es herrlich gewesen sein muß. Der Mensch besaß göttliche Gaben. Dank dem Allgegenwärtigen Licht war es möglich, die Umwelt zu erkennen, ohne riechen oder lauschen zu müssen. Man brauchte auch die Dinge nicht zu betasten. Es war, als seien alle unsere Sinne in einem Sinn zusammengefaßt, dessen Reichweite für uns unvorstellbar ist.«
Jared dachte darüber nach, wie wenig Auftrieb ihm dieser Besuch bei Cyrus gab. Nicht einmal in seiner Suche nach Licht war er bestärkt worden.
»Deine Eskorte wartet«, erinnerte ihn der Denker.
»Eine Frage noch: wie erklärst du den Ritus des optischen Nervs?«
»Ich weiß keine Erklärung. Soviel ich auch schon darüber nachgedacht habe, ich komme nicht auf die Lösung. Aber hör zu: Die Erregung könnte eine Art normaler körperlicher Funktion sein.«
»Auf welche Weise?«
»Schließe deine Augen — ganz fest, so fest du kannst. Also — was hörst du?«
»Ein Rauschen in meinen Ohren.«
»Richtig. Nimm jetzt einmal an, wir hätten seit Generationen in einer Welt leben müssen, wo es keinen Schall gibt. Niemand der heute Lebenden hätte jemals irgend etwas gehört. Aber vielleicht ist die Legende vom Schall weitergegeben worden — sagen wir, durch eine Tastsprache.«
»Ich begreife nicht, worauf —«
»Kannst du dir vorstellen, daß es dann so etwas wie einen Ritus der Erregung des Hörnervs geben könnte? Genau das hast du nämlich getan, als du deine Gesichtsmuskeln anspanntest. Und so könnte es jetzt einen Kustos geben, der dich dazu bringt, Grimassen zu schneiden und den Allmächtigen Schall zu vernehmen.«
Jared erhob sich erregt. »Diese Ringe lautlosen Schalls, die man beim Ritus spürt — du glaubst, sie hängen irgendwie mit dem zusammen, was die Menschen früher einmal mit ihren Augen gemacht haben?«
Er hörte, wie Cyrus die Achseln zuckte, als er erwiderte: »Ich meine gar nichts. Ich stelle lediglich theoretische Überlegungen an.«
Die Atmung des alten Mannes wurde flach, als er sich wieder in die Meditation zurückzog.
Jared trat zum Vorhang, blieb dann stehen und lauschte. Vor langer Zeit hatte er geglaubt, geringere Dunkelheit in der Ursprungswelt zu finden und sie dadurch in ihrem Wesen zu erkennen. Aber Cyrus war zu dem Schluß gekommen, bei der Dunkelheit handle es sich um ein allumfassendes Medium, das von den Sinnen nicht zu erfassen sei.
War es aber nicht möglich, daß Licht eine aufhebende Wirkung hatte — daß es die Dunkelheit zum Teil auszulöschen vermochte? Und wenn man glücklich genug wäre, die Aufhebung stattfinden zu hören, könnte man nicht einen Hinweis auf die Natur von Licht und Dunkelheit finden?
Dann fiel ihm etwas weitaus Bedeutsameres ein: Cyrus hatte gesagt, die Gegenwart des Allmächtigen Lichts im Paradies ermögliche es dem Menschen, ›die Umwelt zu erkennen, ohne riechen oder lauschen zu müssen‹!
War es denn nicht genau das, was die Zerver vollbrachten? Standen die Zerver in geheimnisvoller Beziehung zum Licht — in einer Beziehung, von der sie selbst wahrscheinlich nichts ahnten?
Er hatte bereits einen Zusammenhang zwischen Licht, Dunkelheit, den Augen der Ursprungswelt und den Zwillingsteufeln gespürt. Jetzt hatte es den Anschein, als müßte er die Zerver in diese Gruppe einbeziehen. Denn sobald sie zervten, mußte als Ergebnis des Zervens etwas um sie herum abnehmen — wie eben auch die Stille geringer wurde, sobald ein normaler Mensch Lärm hörte. Und diese Abnahme, im Fall der Zerver, mochte sehr wohl das sein, was er suchte — eine Abnahme der Dunkelheit!
Er rief sich ins Gedächtnis zurück, daß Della auch zu den Zervern gehörte, und plötzlich trieb es ihn in den Oberen Schacht zurück, wo er sie im Ohr behalten und vielleicht erfahren konnte, was um sie herum abnahm, wenn sie zervte.
Jared schob den Vorhang beiseite.
»Leb wohl — und viel Glück«, rief Cyrus und nieste.
Jared entließ seine Eskorte an der letzten Biegung vor dem Eingang zum Oberen Schacht. Sie brauchten nicht auf den Läufer zu warten, da beschlossen worden war, daß der Mann eine Weile hier bleiben sollte.
In gewisser Weise war er froh, die anderen loszuwerden. Der Captain hatte ständig über Halsschmerzen geklagt, und ein weiteres Mitglied der Eskorte hustete so stark, daß man die Töne der Echosteine kaum mehr vernahm.
Überdies wurden die von dem körperlichen Mißgeschick nicht Betroffenen durch die Tatsache beunruhigt, daß sie von Zeit zu Zeit den Geruch des Ungeheuers zu entdecken glaubten. Jared selbst roch nichts — seine Nase war völlig verstopft. Er konnte auch nicht besonders gut hören, da die Dumpfheit in seinem Kopf bis in die Ohrgänge vorgedrungen zu sein schien.
Fröstelnd schlug er seine Echosteine kräftig aneinander und taumelte durch den Tunnel. Wäre er nur in die Therapiegrotte gegangen, statt die Vorbereitungen zur Verbindung fortzusetzen!
Er umrundete die weitgeschwungene Biegung, blieb stehen und lauschte. Voraus wurde emsig gearbeitet — Felsbrocken türmten sich auf Felsbrocken, methodisch, aber ohne Pause. Stimmen — die Stimmen von zwei Männern, murmelnd, fluchend, das Allmächtige Licht beschwörend.
Jared klapperte heftiger mit seinen Echosteinen und horchte den von den Männern reflektierten Tönen, als sie hin- und herrannten, Felsbrocken einsammelten und sie an einer Wand des Eingangs zum Oberen Schacht aufeinanderhäuften.
Dann begriff er, daß er lautlosen Schall hörte — von den beiden! Der Ton haftete an der Wand.
Das kleine Bündel erstarrter Echos schien dort zu kleben, und die Männer bemühten sich verzweifelt, es mit Gestein zu überdecken. Einer der beiden hörte Jared, schrie angstvoll und hastete in seine Welt zurück.
»Es ist doch nur Fenton — vom Unteren Schacht!« rief ihm der andere nach.
Aber man hörte deutlich, daß der Mann nicht die Absicht hatte umzukehren.
Jared setzte sich in Bewegung, fuhr aber erschreckt zurück. Wieder war er davon überzeugt, daß ihn die kreischende Stille nicht durch die Ohren erreichte. Er hörte sie — wenn das der richtige Ausdruck war — mit den Augen! Das bewies er ganz einfach, indem er seinen Kopf abwandte; augenblicklich war die Empfindung aufgehoben.
Als er sich nach vorn wandte, war das Bündel lautlosen Lärms völlig verschwunden. Und es schien bedeutsam, daß er gehört hatte, wie der Mann den Schlußstein auf den Berg aus Felsbrocken legte und damit die Echobarriere fertigstellte.
»Sie sollten lieber hereinkommen«, warnte der Mann, »bevor das Ungeheuer wieder auftaucht!«
»Was ist geschehen?«
Der Widerhall seiner Worte zeigte, daß der andere eine zitternde Hand hob, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Diesmal hat das Ungeheuer niemand verschleppt. Es kam nur, um die Wand zu bestreichen, mit —«
Er schrie auf und schleuderte die Hand hin und her. Dann raste er schluchzend durch den Tunnel. »Allmächtiges Licht!«
Jared hörte deutlich, was den anderen so erschreckte. Die Handinnenfläche war voll lautlosen Schalls gewesen!
Er näherte sich neugierig dem Gesteinshaufen. Aber ein Hustenanfall machte ihm klar, wie krank er war. Er wankte in die Welt des Oberen Schachtes.
Niemand empfing ihn diesmal am Eingang, deshalb benutzte er die Laute des Echowerfers, den Weg zur Grotte Anselms auszuloten. Der Boß wanderte hinter dem Vorhang auf und ab, machte ein grimmiges Gesicht und murmelte vor sich hin.
»Komm herein, mein Junge — entschuldige, Primär«, sagte Anselm. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, daß ich mich über deine Rückkehr freue.«
Er ging wieder hin und her; Jared ließ sich erschöpft auf eine Bank sinken und stützte sein fiebriges Gesicht auf beide Hände.