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Anselm: »Was fangen wir mit ihm an?«

Berater: »Die Strafgrube dürfte vorerst genügen. Da er Zerver ist, kann er uns zweifellos als Geisel dienen.«

Als sie den Vorhang beiseiteschoben, hörte Jared, wie mehrere bewaffnete Wachen vor der Grotte Aufstellung nahmen.

Anselm trat an die Schlafbank und schob Della zur Seite. »Hat er sich schon gerührt?«

»Er ist kein Zerver!« flehte sie. »Laßt ihn ruhen!«

Jared hörte, daß sie Anselm zugewandt war. Und wieder hatte er den Eindruck, daß sie Haarsträhnen aus dem Gesicht strich — von den Augen fort, eigentlich.

Und jetzt fiel ihm ein, daß sie den röhrenförmigen Gegenstand, den die Ungeheuer zurückließen, hochgehoben und vors Gesicht gehalten hatte, bevor sie ihn ihm übergab.

Sie zervte mit ihren Augen.

Anselm packte ihn beim Arm und schüttelte ihn grob. »Also los — aufstehen! Wir hören, daß du wach bist!«

Mühsam stand Jared auf. Lorenz ergriff den anderen Arm, aber Jared schüttelte ihn ab.

»Wachen!« rief Lorenz ängstlich.

Die Bewaffneten stürzten herein.

8

Obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte, war der Strafkrater im Oberen Schacht schlimmer als jener in Jareds Welt. Er dachte, daß man kaum eine schrecklichere Strafe für Missetaten erfinden konnte. Als Einrichtung zur Gefangenhaltung war er ausbruchsicher.

Der Sims, auf dem er lag, befand sich zwei volle Körperlängen unterhalb der Oberfläche. Und er war wesentlich schmäler als seine Schultern, so daß ein Arm und ein Bein über dem Abgrund baumeln mußten.

An einem Seil hinabgelassen, lag er Hunderte von Herzschlägen lang regungslos — bis seine Glieder gefühllos geworden waren. Dann hatte er einen seiner Echosteine ins Loch hinabgeworfen. Er war gefallen — endlos gefallen. Viele Atemzüge später, nachdem er die Hoffnung, den Aufprall zu hören, schon aufgegeben hatte, war ein kaum vernehmbares Klatschen heraufgedrungen.

Aus weiter Ferne kamen die Laute der Geschäftigkeit — spielende Kinder, klappernde Mannaschalen, und immer wieder Husten.

Schließlich war der Echowerfer für die Schlafperiode abgestellt worden, und noch später erschien Della.

An einer Schnur ließ sie eine mit Nahrung gefüllte Schale hinunter. Dann legte sie sich auf den Boden, so daß ihr Kopf über den Rand des Kraters ragte.

»Ich hatte Onkel Noris schon beinahe davon überzeugt, daß du kein Zerver bist«, flüsterte sie enttäuscht, »als ihn diese Epidemie wieder in furchtbare Aufregung versetzte.«

»Du meinst das Niesen und Husten?«

Sie nickte. »Die Leute sollten den Medizinschimmel nehmen, wie wir auch. Aber Lorenz redet ihnen ein, daß er gegen Strahlungskrankheit nicht hilft.«

Sie verstummte, und er ließ die Mannaschale gegen die Kraterwand klappern. Aus den wiederkehrenden, scharfen Echos vermochte er die Züge des Mädchens zusammenzusetzen. Und mehr noch als zuvor gefiel ihm, was er hörte.

Er führte einen Krebs zum Mund, hielt aber inne, als ihm klar wurde, daß sie auch jetzt zervte. Wieder ließ er die Schale gegen die Wand prallen, um Echos zu gewinnen. Er hörte, daß ihm ihr Gesicht direkt zugewandt war.

Jetzt war jedoch kaum der richtige Augenblick, zu lauschen, was mit den Dingen um sie herum geschah, sobald sie zervte. Wenn wirklich irgend etwas abnahm, würde er das keinesfalls entdecken können, solange er sich mühsam an einen Sims klammern mußte.

Trotzdem konzentrierte er sich auf eine Tatsache, die sich jetzt klar herausschälte: Da sowohl Dunkelheit als auch Licht wahrscheinlich mit den Augen zusammenhingen — vielleicht ganz besonders mit den Augen eines Zervers —, mußte die von ihm gesuchte Abnahme zweifellos eine meßbare Wirkung auf die Augen ausüben.

Halt! Da war etwas gewesen — in Anselms Grotte, als sich Della über ihn gebeugt hatte, um ihn wachzurütteln. Haarsträhnen waren ihr dabei ins Gesicht gefallen. Und als sie diese Strähnen wegstrich, war dann nicht weniger Haar vor ihren Augen gewesen?

Er biß sich enttäuscht auf die Lippe. Nein — Dunkelheit konnte nicht etwas so Simples wie Haar sein. Das wäre reinste Ironie — wenn er etwas suchte, das er sein ganzes Leben kannte. Außerdem hatte Cyrus erklärt, die Dunkelheit sei allumfassend, überall.

Das bedeutete, daß er ein weites Gebiet abhorchen mußte, rings um das Mädchen.

»Jared«, sagte Della zögernd, »du bist nicht — ich meine, du hast nicht mit den Ungeheuern —«

»Ich hatte nichts mit ihnen zu tun.«

Sie atmete erleichtert auf. »Kommst du aus — der Zerverwelt?«

»Nein. Ich bin nie dort gewesen.«

Der Widerhall seiner Worte fing ihre bedrückte Miene auf.

»Dann hast du also dein ganzes Leben damit zugebracht, zu verbergen, daß du ein Zerver bist — genau wie ich«, erklärte sie mitfühlend.

Es empfahl sich, sie in ihrem Zutrauen zu bestärken.

»Es ist nicht leicht gewesen.«

»Nein, gewiß nicht. Zu wissen, daß man alles viel besser tun kann, und sich ständig scharf belauschen zu müssen, damit die anderen nicht herausfinden, was man eigentlich ist.«

»Ich habe wohl etwas zu viel riskiert, sonst säße ich jetzt nicht hier unten.«

Er hörte, wie ihre Hand am Kraterrand entlangglitt, als wolle sie sich zu ihm hinabtasten. »O Jared! Bedeutet es dir auch soviel — zu wissen, daß du nicht allein bist? Ich hatte nie vermutet, daß auch ein anderer soviel durchmachen müßte wie ich — immer voll Angst, daß man erkannt wird.«

Er konnte verstehen, wie sehr sie sich zu ihm gedrängt fühlte, wie ihre Einsamkeit nach ihm rief. Und er spürte in sich, daß es ihn zu ihr trieb, obwohl er kein Zerver mit dem Bedürfnis nach Mitgefühl war.

»Ich begreife nicht, warum du nicht schon vor langer Zeit begonnen hast, nach der Zerverwelt zu suchen«, fuhr sie fort. »Ich hätte es getan. Aber ich fürchtete immer, mich in den Tunnels zu verirren.«

»Ich wollte auch dorthin«, schwindelte er. Und es schien, als könnte er die Rolle eines Zervers ganz einfach spielen, indem er ihrem Beispiel folgte. »Aber ich habe Pflichten gegenüber dem Unteren Schacht.« — »Ja, ich weiß.«

»Ich höre nicht — das heißt, ich zerve nicht, warum du dich den Zervern bei einem ihrer Überfälle nicht angeschlossen hast«, meinte er.

»Oh, das ginge doch nicht. Was wäre, wenn ich es versuchte, und die Zerver nähmen mich nicht auf? Dann wüßte jedermann über mich Bescheid. Man würde mich als Andersartige in die Tunnels treiben!«

Sie erhob sich und zervte in den Krater hinab.

»Du gehst?« fragte er.

»Nur so lange, bis ich einen Weg gefunden habe, dir zu helfen.«

»Wie lange will man mich hier festhalten?« Er versuchte sich umzudrehen, erreichte aber nur, daß er um ein Haar vom Sims gestürzt wäre.

»Bis die Ungeheuer zurückkommen; dann will ihnen Onkel Noris beibringen, daß wir dich als Geisel gefangenhalten.«

Während er den verklingenden Schritten lauschte, staunte er über die Möglichkeiten, die sich aus seiner Gemeinschaft mit dem Mädchen ergaben. Selbst wenn Licht und Dunkelheit nicht zu fassen sein sollten, mochte er wenigstens etwas über die verwirrende Fähigkeit der Zerver erfahren.

Es war nach Mitternacht, als es Jared mit verkrampften und schmerzenden Muskeln gelang, sich eine sitzende Stellung zu erringen. Er pochte mit der Mannaschale gegen die Felswand und lauschte. Das Loch war nicht sehr breit — etwa zwei Körperlängen im Durchmesser, schätzte er. Und er konnte hören, daß die Wände keine Spalten oder Ausbuchtungen aufwiesen, die als Griffe für den Aufstieg dienen konnten.

Er stemmte ein Knie bis zur Brust hoch und stellte den Fuß auf den Sims. Dann erhob er sich mit ausgestreckten Armen Ruck um Ruck, bis er aufrecht stand. Langsam drehte er sich um, preßte die Brust an das Gestein. Er hob die Arme und erzeugte laute Töne, indem er mit den Fingern schnippte. Das plötzliche Absinken im Tonregister verriet ihm, daß bis zum Rand des Kraters noch mindestens eine Armlänge über seine ausgestreckte Hand hinaus zurückzulegen war.