Er verharrte mehrere hundert Herzschläge lang in dieser Stellung, bis plötzlich ein ungeheurer Aufruhr losbrach. Vorher waren nur die normalen Laute einer schlafenden Welt hörbar gewesen, interpunktiert von gelegentlichen Hustenanfällen.
Dann brach sich mit einem Schlag gewaltige Erregung und Verwirrung Bahn, als eine der Wachen entsetzt aufschrie: »Ungeheuer! Ungeheuer!«
Heisere Rufe, Kreischen und die Geräusche der verzweifelt hin- und herrennenden Bewohner drangen in den Krater.
Jared verlor beinahe das Gleichgewicht, als er den Kopf weit nach hinten bog; er spürte sofort, daß die ganze Öffnung über ihm mit lautlosem Schall wisperte. Im Gegensatz zu seiner Erfahrung beim Ritus gab es hier nur einen Kreis dieser unheimlichen Erscheinung. Und er schien seine Augen nicht direkt zu berühren, sondern stimmte in Größe und Form mit dem hörbaren Eindruck von der Öffnung des Kraters überein.
Er wankte, fuhrwerkte mit den Armen, um sich vor einem Sturz zu bewahren, und preßte dann sein Gesicht gegen das Gestein. Er hörte, wie jemand zum Krater lief.
Im nächsten Augenblick erkannte Jared die Stimme des Beraters, die von weitem schrie: »Sind Sie noch am Krater, Sadler?«
Irgendwo ertönten hilflose Schreie, als Sadler oben zum Stehen kam. »Ich bin hier!« Er stieß seinen Speer gegen den Fels, um Jareds Position auf dem Sims auszuloten.
Diesmal erhob sich Anselms Stimme, um den Ungeheuern zu drohen: »Wir haben Fenton gefangen! Wir wissen, daß er mit euch zusammenarbeitet! Verschwindet, sonst bringen wir ihn um!«
Entsetztes Kreischen verriet, daß die Ungeheuer Anselms Drohung mißachteten.
»Also gut, Sadler!« brüllte Lorenz. »Wirf ihn in den Abgrund!«
Die Speerspitze streifte Jareds Schulter; er zuckte zusammen und rutschte den Sims entlang. Sie kam wieder herab, glitt zwischen den Kraterinnenrand und seinen Brustkasten und begann, ihn vom Sims zu stemmen. Jared rutschte aus, kämpfte mit fliegenden Armen um sein Gleichgewicht.
Im letzten Augenblick schlossen sich seine Hände um den Speer. Er riß sich verzweifelt nach oben, zog den Speer mit einem heftigen Ruck an sich und spürte, wie der Mann oben die Balance verlor. Plötzlich hatte Jared den Speer frei in der Hand; ein starker Luftzug fauchte an ihm vorbei, als Sadler schreiend in den Abgrund stürzte.
Die Waffe war lang genug, den Krater zu überbrücken. Jared tastete mit der Spitze die gegenüberliegende Wand ab, bis er eine Einbuchtung gefunden hatte. Er zwängte das Schaftende des Speers in den Spalt und stützte die Spitze gegen den Fels über sich.
So schnell wie sie ausgebrochen war, legte sich die Panik in der Oberen Schachtwelt wieder. Anscheinend hatten die Räuber ihre Absicht erreicht und waren wieder verschwunden.
Jared schwang sich auf den festgeklemmten Speer, streckte die Arme aus, erreichte den Rand der Krateröffnung und zog sich hoch.
»Jared! Du bist frei!«
Echos ihrer Schritte brachten bruchstückhafte Eindrücke Dellas, die auf ihn zulief. Er konnte das leise Scharren des Seils hören, das sie um den Hals geschlungen hatte.
Er versuchte, sich zurechtzufinden. Aber das langsam verklingende Stimmengewirr war zu konfus, als daß er daraus hätte schließen können, wo sich der Eingang befand.
Della ergriff seine Hand. »Ich konnte erst jetzt ein Seil finden.«
Impulsiv schlug er die Richtung ein, in die er gelauscht hatte.
»Nein.« Sie drehte ihn herum. »Dort drüben ist der Eingang. Kannst du ihn zerven?«
»Ja, jetzt zerve ich ihn.«
Er blieb ein wenig zurück, stets einen Schritt hinter ihr und folgte ihrer ziehenden Hand.
»Wir machen einen weiten Umweg, am Fluß entlang«, schlug sie vor. »Vielleicht können wir den Tunnel erreichen, bevor sie den Zentralechowerfer einschalten.«
Und er hatte gerade darauf seine Hoffnung gesetzt. Natürlich, er war nicht auf den Gedanken gekommen, daß dieselben Echos, die ihm Hindernisse zeigten, auch den anderen verrieten, wo er sich befand.
Er stieß mit dem Fuß gegen eine kleine Erhebung und stürzte. Mit Hilfe des Mädchens richtete er sich wieder auf und hinkte weiter. Dann nahm er sich zusammen und besann sich auf all die vielen Tricks, in endlosen Trainingsstunden erworben, als er gelernt hatte, den Rhythmus eines Herzschlags, die rauschende Stille eines trägen Flusses, gestört von der Bewegung eines Fisches unter der ruhigen Oberfläche, den schwachen Geruch und das Gleiten eines Salamanders über nasses Gestein zu erkennen.
Zuversichtlicher horchte er nach Geräuschen — irgendwelchen Geräuschen; er erinnerte sich jetzt daran, daß selbst das unbedeutendste Geräusch nützlich ist. Da! Das minimale Stocken in Dellas Atmung, als sie ihre Lungen füllte. Es bedeutete, daß sie auf eine niedrige Erhebung trat. Er war vorbereitet, als er die Stelle erreichte.
Angestrengt lauschte er anderen Lauten. Die Herzschläge waren zu undeutlich, als daß man sie hätte gebrauchen können. Aber in ihrer Tragtasche klapperte etwas. Er roch die kaum merkbaren Düfte verschiedener Nahrungsmittel. Sie hatte eine Menge Speisen eingepackt, und irgendein Leckerbissen fiel bei jedem Schritt gegen die Innenwand der Tasche. Wenn er aufmerksam genug war, konnten ihm diese schwachen Geräusche Echos liefern. Da waren sie schon — beinahe verloren in den lauteren Tönen der Welt, aber doch so deutlich, daß sie hörbare Eindrücke dessen, was vor ihm lag, vermittelten.
Jetzt hatte er seine Sicherheit wiedergewonnen.
Sie verließen das Flußufer, kürzten den Weg hinter dem Mannagarten ab und hatten den Eingang beinahe erreicht, als jemand nun den Echowerfer einschaltete.
Augenblicklich erkannte Jared deutlich, was ihn vorher nur vage gestört hatte — eine Wache war eben am Eingang eingetroffen.
Kurz darauf gab der Mann auch schon Alarm. »Jemand versucht zu fliehen! Zwei sind es sogar!«
Jared duckte sich und stürmte los. Er prallte gegen den Wächter und riß ihn zu Boden.
Della holte Jared ein und gemeinsam rannten sie in den Tunnel. Er ließ sie voraushasten, bis sie die erste Biegung hinter sich hatten. Dann holte er ein paar Steine aus der Tasche und übernahm die Führung.
»Echosteine?« fragte sie verständnislos.
»Natürlich. Wenn wir jemandem aus der Unteren Welt begegnen, fragt man sich vielleicht, warum ich sie benütze.«
»O Jared, warum gehen wir nicht — nein. Es hat wohl keinen Sinn.«
»Was wolltest du sagen?« Er war jetzt wieder völlig unbefangen; die vertrauten Töne der Echosteine brachten wahre Eindrücke von der Umwelt zurück.
»Ich wollte sagen, gehen wir doch zur Zerverwelt, wo wir hingehören.«
Er blieb abrupt stehen. Die Zerverwelt! Warum nicht? Wenn er nach der Abnahme irgendeines Mediums suchte, die beim Zerven auftreten sollte, wo ließ sich das besser feststellen, als in einer Welt, wo viele Leute den ganzen Tag zervten? Aber konnte er damit ungestraft durchkommen? Konnte er in einer Welt voll Zerver erfolgreich einen Zerver spielen — noch dazu, da man ihm von vornherein feindlich gesinnt sein würde?
»Ich kann den Unteren Schacht nicht verlassen«, entschied er schließlich.
»Das habe ich mir gedacht. Jedenfalls nicht, solange man dort mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Aber einmal, Jared — einmal werden wir hingehen?«
»Bestimmt.«
Sie umklammerte seine Hand fester. »Jared! Wenn nun der Boß einen Läufer zum Unteren Schacht schickt, um den Leuten mitzuteilen, daß du ein Zerver bist?«
»Man würde es —« Er verstummte. Eigentlich hatte er sagen wollen, daß man es in seiner Welt nicht glauben würde. Aber das war gar nicht mehr so sicher, vor allem, wenn man sich überlegte, daß der Kustos alles tat, um die anderen gegen ihn aufzuwiegeln.