Als sie seine Welt erreichten, fiel ihm auf, daß keine Wachen mehr am Eingang standen. Die klaren, deutlichen Töne des Echowerfers ließen jedoch erkennen, daß jemand am Ende des Tunnels stand. Beim Näherkommen empfing Jared den reflektierten Eindruck einer weiblichen Gestalt, mit dichtem Haar vor dem Gesicht.
Es war Zelda.
Als die beiden näherkamen, fuhr sie zusammen. Nervös betätigte sie ihre Echosteine, bis Jared und Della in den Bereich des Echowerfers traten.
»Du hast dir eine schöne Zeit dafür ausgesucht, deine Partnerin mitzubringen«, sagte sie vorwurfsvoll, als sie Jared erkannt hatte.
»Warum?«
»Die Ungeheuer haben wieder zwei Personen geraubt«, erwiderte sie. »Deswegen bewachen wir den Eingang nicht mehr. Sie haben nämlich einen Wächter verschleppt. Inzwischen ist es dem Kustos gelungen, die ganze Welt gegen dich aufzubringen.«
»Vielleicht läßt sich das ändern«, meinte er zornig.
»Ich glaube nicht. Du bist nicht mehr Primär. Romel hat sich an deine Stelle gesetzt.« Zelda hustete ein paarmal, und das Haar wurde vor ihrem Gesicht hochgeblasen.
Jared schritt zur Amtsgrotte.
»Warte«, rief ihm das Mädchen nach. »Da ist noch etwas anderes. Alle sind wütend auf dich. Hörst du das?«
Er horchte in die Richtung der Wohnquartiere. Die ganze Welt hallte von Husten wieder.
»Sie geben dir die Schuld an dieser Epidemie«, erklärte Zelda, »seit ihnen eingefallen ist, daß du als erster krank warst.«
»Jared ist zurückgekommen!« rief jemand im Mannagarten.
Ein anderer Mann weiter oben gab den Ruf weiter.
Kurze Zeit später verließ eine Gruppe von Leuten den Mannagarten, wo sie gearbeitet hatte. Andere stürzten aus ihren Grotten. Alle näherten sich dem Eingang.
Jared studierte die zurückgeworfenen Echos und fing Eindrücke von Romel und Philar in der ersten Reihe der anrückenden Bewohner auf. Zu beiden Seiten wurden sie durch Bewaffnete gedeckt.
Della packte erschrocken seinen Arm. »Vielleicht wäre es sicherer, wenn wir einfach gingen.«
»Wir dürfen Romel das nicht durchgehen lassen.«
Zelda fügte lachend hinzu: »Wenn du meinst, daß unsere Welt durcheinander ist, dann warte nur einmal, bis du hörst, was Romel sich mit ihr leistet.«
Jared wich vor den herandrängenden Männern nicht zurück. Wenn er sie davon überzeugte, daß Romel und Philar sich ihrer nur als Werkzeuge persönlichen Ehrgeizes bedient hatten, dann nur aus einer würdigen und zuversichtlichen Haltung heraus.
Sein Bruder blieb vor ihm stehen und warnte: »Wenn du hierbleiben willst, hast du dich meinen Anordnungen zu fügen. Ich bin jetzt Primär.«
»Wie haben die Senioren abgestimmt?« fragte Jared gelassen.
»Zu einer Abstimmung ist es noch nicht gekommen. Aber das holen wir nach!« Romel schien einiges von seinem Selbstvertrauen zu verlieren. Er verstummte, um zu horchen, ob er noch die Unterstützung der Überlebenden genoß, die sich im Halbkreis um den Eingang aufgestellt hatten.
»Kein Primär kann ohne genaue Untersuchung abgesetzt werden«, zitierte Jared das Gesetz.
Kustos Philar trat vor. »Was uns angeht, ist dir eine Untersuchung schon zuteil geworden — vor einer Macht, deren Gerechtigkeit die unsere weit übertrifft, vor dem Großen Allmächtigen Licht selbst!«
Einer der Männer schrie: »Du hast die Strahlungskrankheit! Man bekommt sie nur, wenn man sich mit Kobalt oder Strontium einläßt!«
»Und du hast alle anderen damit angesteckt!« fügte ein anderer hustend hinzu.
Jared wollte etwas einwenden, aber man schrie ihn nieder.
Der Kustos erklärte streng: »Es gibt nur zwei Ursachen für die Strahlungskrankheit. Entweder hast du wirklich etwas mit den Zwillingsteufeln zu tun gehabt, wie Romel vermutet, oder die Krankheit ist eine Strafe des Lichts für deine Lästerungen, wie ich annehme.«
Jetzt verlor Jared die Fassung. »Das ist nicht wahr! Fragt doch Cyrus, ob ich —«
»Das Ungeheuer hat Cyrus gestern geholt.«
»Der Denker — ist nicht mehr?«
Della berührte seinen Arm und flüsterte: »Wir müssen schnell verschwinden, Jared.«
Im Tunnel wurden eilige Schritte und die Töne von Echosteinen hörbar. Jared lauschte.
An der Geschwindigkeit ließ sich erkennen, daß der Mann zu den amtlichen Läufern gehörte. Als er langsamer wurde, stand fest, daß er die Versammlung am Eingang gespürt hatte. Er blieb stehen, trat ein paar Schritte vor.
»Jared Fenton ist ein Zerver!« verkündete er. »Er hat die Ungeheuer in den Oberen Schacht geführt!«
Die bewaffneten Wachen schwärmten aus und umringten Jared und das Mädchen.
Jemand schrie: »Zerver — im Tunnel!«
Mehr als die Hälfte der Überlebenden fuhr herum und flüchtete lärmend in die Grotten, als Jared den vom Gang heranschwebenden Geruch auffing. Jemand, von dem die Gerüche der Zerverwelt ausgingen, näherte sich — taumelnd, stürzend, sich wieder aufraffend.
Die Wachen fuhren auseinander. Die beiden Männer am Eingang hoben ihre Speere.
In diesem Moment taumelte der Zerver in den Klangbereich des Echowerfers und brach zusammen.
»Halt!« schrie Jared und warf sich auf die beiden Wachen, die eben ihre Speere schleudern wollten.
»Es ist nur ein Kind!« rief Della.
Jared ging zu dem kleinen Mädchen, das vor Schmerzen stöhnte. Es war Estel, die er im Haupttunnel damals der Zervergruppe zurückgegeben hatte.
Er hörte, wie Della neben dem Kind niederkniete und mit den Händen den Brustkasten betastete. »Sie ist verletzt! Mindestens vier oder fünf Rippen sind gebrochen!«
Estel erkannte ihn, und er hörte, wie sie schwach lächelte. Er erkannte auch, mit welcher Lebendigkeit ihre Augen hin- und herglitten.
»Du hast mir damals gesagt, daß ich anfangen würde zu zerven — wenn ich es am wenigsten erwarte«, stieß sie hervor.
Speer schlug gegen Speer, irgendwo hinter ihm, und die Echos brachten den Eindruck von dem schmerzverzerrten Gesicht Estels.
»Du hast recht gehabt«, sagte sie mühsam. »Ich versuchte, deine Welt zu finden und stürzte in einen Krater. Als ich wieder herauskletterte, konnte ich zerven.«
Ihr Kopf sank gegen seinen Arm, und er fühlte, wie das Leben aus ihr entwich.
»Zerver! Zerver!« stiegen die Schreie hinter ihm auf.
»Jared ist ein Zerver!«
Er ergriff Dellas Hand und stürmte in den Tunnel, als zwei Speere neben ihm die Felswand trafen. Er zögerte nur so lange, bis er die Speere aufgehoben hatte, dann rannte er mit Della durch den Tunnel.
9
Eine halbe Periode später, nachdem sie lange Strecken unvertrauter Gänge hinter sich hatten, blieb Jared stehen und lauschte angestrengt.
Da war es wieder! Ein schwaches Flügelschlagen — viel zu leise für Dellas Ohren allerdings.
»Jared, was ist denn?« Sie preßte sich an ihn.
»Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, meinte er leichthin.
In Wirklichkeit argwöhnte er schon seit einiger Zeit, daß der Vampir sie verfolgte.
»Vielleicht einer der Zerver!« meinte sie freudig.
»Das hatte ich zuerst auch gehofft. Aber es war ein Irrtum. Nichts zu hören.« Es hatte keinen Sinn, sie zu ängstigen — noch nicht.
Solange er das Gespräch in Gang zu halten vermochte, brauchte er sich über im Weg befindliche Gruben keine Sorgen zu machen. Die Worte lieferten deutliche Echos. Aber die Auswahl der Themen schien nicht unerschöpflich, und schließlich wurde es manchmal still. In diesen Pausen mußte er zur List Zuflucht nehmen, um das Mädchen nicht merken zu lassen, daß er kein Zerver war. Ein Husten im richtigen Moment, ein Klappern der Speere, ein unnötiges Schleifen am Boden, das einen Stein entlangkullern ließ — all diese Improvisationen halfen ihm weiter.