Er ließ einen Speer gegen Fels schlagen und entdeckte eine Biegung des Tunnels. Als er ihr folgte, warnte Della: »Paß auf, ein hängender Stein!«
Ihre Worte lieferten den Eindruck der schmalen Felsnadel in aller Deutlichkeit. Aber zu spät.
Peng!
Der Aufprall seines Schädels ließ die Nadel bersten; die Bruchstücke flogen an die Felswand.
»Jared«, fragte sie verwirrt, »zervst du denn nicht?«
Er heuchelte ein Stöhnen, um nicht antworten zu müssen — obgleich die Schwellung an seiner Stirn Rechtfertigung genug für einen Schmerzenslaut bot.
»Bist du verletzt?«
»Nein.« Er marschierte weiter.
»Und du zervst auch nicht.«
Er atmete schneller. Hatte sie es schon bemerkt? Verlor er jetzt seine einzige Chance, in die Zerverwelt gelangen zu können?
Aber obgleich sie davon überzeugt war, daß er nicht zervte, lachte sie. »Du hast dieselben Schwierigkeiten wie ich — bis ich mir sagte ›Zur Strahlung mit allem, was die Leute denken! Ich zerve, soviel ich will!‹«
Er benützte den Widerhall ihrer Worte, sich die Einzelheiten des Gebiets unmittelbar vor ihm genau einzuprägen. »Du hast recht. Ich habe nicht gezervt.«
»Wir brauchen unsere Fähigkeit nicht mehr zu verbergen, Jared.« Sie hängte sich an seinen Arm. »Das liegt alles hinter uns. Wir können zum erstenmal wir selber sein — wirklich und ganz! Ist das nicht herrlich?«
»Gewiß.« Er rieb sich die Beule an seiner Stirn. »Herrlich.«
»Dieses Mädchen, das dich beim Unteren Schacht erwartet hat —«
»Zelda?«
»Was für ein seltsamer Name — und dann auch noch Haar vor dem Gesicht! War sie — eine Freundin?«
Wenigstens lief die echoerzeugende Unterhaltung wieder. Und jetzt konnte er auch alle Hindernisse deutlich hören.
»Ja, man kann sie wohl so nennen.«
»Eine gute Freundin?«
Selbstbewußt führte er sie um einen flachen Krater herum; er rechnete halb mit einem lobenden: »Jetzt zervst du endlich!« Aber es blieb aus.
»Ja, eine gute Freundin«, erwiderte er. »Das habe ich mir gedacht — nachdem sie auch so treu auf dich gewartet hat.«
Er wandte den Kopf ab und lächelte. Den Zervern mangelte es also anscheinend nicht an normaler menschlicher Empfindlichkeit. Es machte ihm Spaß, als sie schmollend fragte: »Wirst du sie — sehr vermissen?«
Seine Belustigung verbergend, sagte er tapfer: »Ich denke, ich werde schon darüber hinwegkommen.«
Er hustete wieder einmal unnötigerweise und entdeckte einen undeutlichen Hohlraum. Glücklicherweise traf er beim nächsten Schritt einen kleinen Stein, der am Boden entlangrollte. Die Echos zeigten Einzelheiten einer Kluft, die sich quer durch den halben Tunnel erstreckte.
Della warnte. »Zerv diese —«
»Ich habe sie schon gezervt!« gab er sofort zurück und führte sie um das Hindernis. Nach einer Weile meinte sie: »Du hast viele Freunde gehabt, nicht wahr?«
»Ich glaube nicht, daß ich jemals einsam gewesen bin.« Sofort bedauerte er diesen Satz, da er vermutete, daß ein Zerver in seiner Lage automatisch einsam gewesen sein mußte — unzufrieden mit seinem Schicksal.
»Du wußtest nicht einmal, daß du anders warst als alle anderen?«
»Ich meinte, die meisten Leute waren so nett, daß ich beinahe mein Anderssein vergessen konnte«, ergänzte er rasch.
»Du hast sogar das arme Zerverkind gekannt«, sagte sie nachdenklich.
»Estel. Ich habe sie vorher nur einmal gehört — gezervt.« Er berichtete von seiner Begegnung mit dem flüchtenden Kind.
Als er zu Ende gekommen war, fragte sie: »Du hast Mogan und die anderen fortgehen lassen, ohne ihnen zu sagen, daß du auch ein Zerver bist?«
»Ich — das heißt —« Er schluckte krampfhaft.
»Oh«, rief sie, plötzlich begreifend, »ich habe vergessen — du hattest ja deinen Freund Owen bei dir. Und er hätte dein Geheimnis sonst erfahren.«
»Ganz richtig.«
»Auf jeden Fall konntest du den Unteren Schacht nicht verlassen, weil man dich dort so dringend brauchte.«
Er horchte argwöhnisch. Warum war sie so schnell bei der Hand, die Antworten zu liefern, nach denen er mühsam gesucht hatte? Es schien, als hätte sie ihn hübsch säuberlich aufgespießt, um ihn dann wieder freizulassen. Wußte sie denn, daß er kein Zerver war? Irgendwie machte alles den Eindruck, als verschwände sein ganzer Plan zur Erforschung der Zusammenhänge der Zerver-Dunkelheit-Augen-Licht in einer geheimnisvollen Echoleere.
Wieder wurde er von Flügelschlägen aus seinen Gedanken gerissen — Della konnte es wegen der Ferne immer noch nicht hören. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, konzentrierte er sich auf das Geräusch. Jetzt wurden sie schon von zwei Bestien verfolgt!
Das Klügste wäre gewesen, Deckung zu suchen und sofort dem Angriff der Vampire zu begegnen — bevor sie noch andere Artgenossen herbeilockten. Er verzichtete darauf in der Hoffnung, der Tunnel würde sich so weit verengen, daß er zwar ihn und das Mädchen, aber nicht mehr die Vampire durchließ. Er wurde langsamer und wartete darauf, daß Della etwas sagte, um mehr Echos zu gewinnen.
Peng!
Der Anprall der Schulter gegen einen hängenden Stein war diesmal nicht ganz so heftig. Er wurde nur herumgeworfen.
Wütend nahm er ein Paar Echosteine aus seinem Beutel und schlug sie gegeneinander. Zur Strahlung mit ihren Gedanken! Bitte, dann kam eben heraus, daß er kein Zerver war!
Della lachte nur. »Benütze nur deine Steine, wenn du dich damit sicherer fühlst. Mir ging es genauso, als ich anfing, ständig zu zerven.«
»Tatsächlich?« Er schlug jetzt eine schnellere Gangart an, da alles vor ihm deutlich zu hören war.
»Du wirst dich bald daran gewöhnen. Es liegt an den Luftströmungen. Sie sind wunderschön, aber sie ermüden sehr.«
Strömungen? Hieß das, daß sie eine Möglichkeit hatte, langsam strömende Luft in den Tunnels zu erkennen — er selbst konnte sie nur hören, wenn sie durch einen fliegenden Speer oder Pfeil in größere Unruhe gebracht wurde.
Diesmal stolperte Della. Sie prallte gegen ihn, wodurch sie beide das Gleichgewicht verloren und gegen die Wand taumelten.
Sie klammerte sich an ihn, und er fühlte die feuchte Wärme ihres Atems an seiner Brust, die zarte Weichheit ihres Körpers an dem seinen.
Er hielt sie einen Augenblick fest, und sie flüsterte: »Oh, Jared! Wir werden ja so glücklich sein! Niemals hatten zwei Leute so viel gemeinsam!«
Ihre glatte Wange preßte sich gegen seine Schulter, und ihr zusammengebundenes Haar lag weich über seinem Arm.
Er ließ die Speere fallen, berührte ihr Gesicht und fühlte die ebenmäßigen Züge. Ihre Taille war schmal unter seiner Hand, darunter rundeten sich die Hüften.
Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht klar erkannt, daß sie weit mehr werden konnte als ein Mittel zum Zweck. Und er war davon überzeugt, sich getäuscht zu haben, als er annahm, sie wolle ihn täuschen — so überzeugt, daß er daran dachte, alles zu vergessen und sich mit ihr in irgendeiner fernen Welt niederzulassen.
Aber ernüchternde Logik meldete sich zu Wort; er hob abrupt die Speere auf und machte sich wieder auf den Weg. Della gehörte zu den Zervern; er nicht. Sie würde ihr Glück in der Zerverwelt finden, und er mußte sich mit seiner Suche nach Licht begnügen — wenn er sein Eindringen in die Zerverwelt überlebte.
»Zervst du jetzt, Della?« fragte er vorsichtig.
»Ja, die ganze Zeit. Du wirst es auch bald tun.«
Zur Probe lauschte er angestrengt, in der vagen Hoffnung, irgendeine kaum merkliche Veränderung in ihrer Umgebung zu erkennen. Aber er hörte nichts. Es mußte sein, wie er früher vermutet hatte: Die gesuchte Abnahme war so geringfügig, daß er eine ganze Anzahl von Zervern gleichzeitig belauschen mußte, um die insgesamt hervorgerufene Wirkung zu bemerken.
Aber halt! Es gab einen direkten Weg.