Sie stand auf und schritt hochaufgerichtet davon.
Jared folgte ihr, blieb aber plötzlich stehen, als die Welt mit einem Male in Stille getaucht war.
Der Ewige Mann hatte aufgehört zu klopfen! Er gestattete, daß man sich ihm näherte!
Unerklärlich zögernd durchquerte Jared die Welt. Lea und Ethan waren glaubhaft. Aber der Ewige Mann ragte wie ein gespenstisches Wesen aus einer phantastischen Vergangenheit in diese Gegenwart — Jared konnte nie hoffen, ihn zu verstehen.
Er orientierte sich an den asthmatischen Atemzügen und trat langsam an die Sitzbank.
»Das ist Jared«, erklärte Lea. »Er ist endlich zu uns gekommen.«
»Jared?«
»Natürlich, du erinnerst dich doch.«
Der Ewige Mann klopfte fragend. Und Jared fing den Eindruck eines schmalen Fingers auf, der beinahe der ganzen Länge nach in einer Vertiefung des Steins verschwand, bevor das Klopfgeräusch ertönte. Ungezählte Generationen hindurch hatte er den Stein so stark ausgehöhlt!
»Ich kenne dich nicht.« Die Stimme klang rauh und flüsternd.
»Lea hat mich — früher oft hierher gebracht.«
»Oh, Ethans kleiner Freund!« Eine knochige Hand erhob sich zitternd. Sie ergriff Jareds Handgelenk. Der Ewige Mann versuchte zu lächeln, aber der Eindruck wurde durch den ungekämmten Bart, hervorstehende Backenknochen und einen zahnlosen Mund verwischt.
»Wie alt bist du?« fragte Jared.
Schon als er die Frage stellte, wußte er, daß es keine Antwort darauf gab. Allein existierend, bevor Lea und Ethan kamen, kannte der Mann keine Maßstäbe, mit denen sich die Zeit berechnen ließ.
»Zu alt, mein Sohn. Und ich bin so einsam gewesen.« Die schwache Stimme war von Verzweiflung erfüllt.
»Sogar mit Lea und Ethan?«
»Sie wissen nicht, was es bedeutet, geliebte Menschen dahingehen zu sehen, von der Schönheit der Ursprungswelt verbannt zu sein —«
Jared fuhr zusammen. »Du hast in der Ursprungswelt gelebt?«
»— vertrieben zu werden, wenn man seine Enkel und ihre Ur-Urenkel zu Überlebenden hat heranwachsen hören können.«
»Hast du in der Ursprungswelt gelebt?« fragte Jared noch einmal.
»Aber man kann es ihnen nicht übelnehmen, daß sie einen Andersartigen loswerden wollten, der nicht zu altern verstand. Was meinst du — ob ich in der Ursprungswelt gelebt habe? Ha. Bis zu einigen Generationen, nachdem wir das Licht verloren hatten.«
»Du meinst, du bist dort gewesen, als Licht noch bei den Menschen war?«
Nach langem Schweigen erwiderte der Ewige Mann: »Ja. Ich — wie sagten wir damals? — ich sah Licht.«
»Du ›sahst‹ Licht?«
Der andere lachte kurz. »Sah«, plapperte er. »Vergangenheit des Wortes ›sehen‹. Sehen, sah, gesehen.«
Sehen! Da war das Wort wieder — geheimnisvoll, herausfordernd, und so dunkel wie die Legenden, aus denen es stammte.
»Hast du Licht gehört?« fragte Jared.
»Ich sah Licht. Wie herrlich war das damals! Die Kinder liefen mit fröhlichen, hellen Gesichtern herum, ihre Augen glänzten und —«
»Hast du Es gefühlt?« schrie Jared. »Hast du Es berührt? Hast du Es gehört?«
»Was?«
»Licht!«
»Nein, nein, mein Sohn. Ich habe es gesehen.«
»Wie war es? Erzähle!«
Der andere schwieg, sank auf seiner Bank in sich zusammen. Schließlich atmete er tief ein. »Ich weiß es nicht! Es ist so lange her, daß ich mich nicht einmal erinnern kann, wie Licht aussah!«
Jared packte ihn bei den Schultern. »Versuch es doch!«
»Ich kann nicht!« schluchzte der alte Mann.
»Hatte es etwas mit — den Augen zu tun?«
Klopf-klopf-klopf…
Er hatte sich wieder in sein Inneres zurückgezogen, vergrub bittere Erinnerungen und quälende Gedanken wieder unter dem Geröll der Gewohnheit und Gleichgültigkeit.
Es kam nun für Jared nicht mehr in Frage, die Welt Leas zu verlassen — nicht, seit das senile Gedächtnis des Ewigen Mannes die Hoffnung bot, daß sich neue Wege auf der Suche nach Licht eröffneten. Aber er konnte Della nicht sagen, warum er noch bleiben mußte. Er tat also einfach, als sei er körperlich noch nicht in der Lage, die Reise fortzusetzen.
Della gab sich mit dieser Erklärung anscheinend zufrieden; jedenfalls wartete sie widerstrebend auf seine Gesundung.
Daß ihr ursprüngliches Mißtrauen Lea gegenüber impulsiv und vorübergehend gewesen war, ersah man daraus, daß die beiden Frauen einander im Lauf der Zeit etwas näherkamen. Bei irgendeiner Gelegenheit sagte Della sogar zu Jared, daß ihr erster Eindruck von Lea und Ethan falsch gewesen sein könnte. Es sei eigentlich alles anders, als sie anfangs geglaubt habe. Auch Ethan sei beileibe nicht der tölpelhafte, schwerfällige Kerl, den sie zuerst in ihm vermutet habe — nicht im geringsten.
Taktvoll vermied es Lea, Jareds und Ethans Gedanken zu lesen, solange Della in der Nähe war. Della vergaß deshalb entweder, daß Lea diese Fähigkeit besaß, oder sie dachte wenigstens kaum daran.
Auch Lea mußte sich anpassen. Obgleich sie Della freundlich behandelte, spürte Jared stets, daß es unangenehm war, die Gedanken des Mädchens nicht erkennen zu können.
Während Jared darauf wartete, daß der Ewige Mann wieder aus seiner Versunkenheit emportauchte und Gesellschaft zuließ, spürte er dieser Entwicklung nach.
In der fünften Periode nach ihrer Ankunft badete Della mit Ethan im Fluß. Jared schärfte die Speerspitzen an einem scharfen Stein, als ihn Leas Gedanken erreichten: »Bitte vergiß die Zerverwelt, Jared.«
»Du weißt, daß ich mich schon entschieden habe.«
»Dann mußt du es dir eben anders überlegen. Die Tunnels sind voll von Ungeheuern.«
»Woher weißt du das? Du hast mir selbst erzählt, daß du Angst davor hast, ihren Gedanken zu lauschen.«
»Aber ich habe andere Gedanken belauscht — in den beiden Schächten.«
»Und was hast du erfahren?«
»Schrecken, Panik und eigenartige Eindrücke, die ich nicht verstehe. Die Ungeheuer sind überall. Und die Leute rasen davon, verbergen sich, kriechen in ihre Grotten, nur um später wieder die Flucht zu ergreifen.«
»Treiben sich auch in der Nähe dieser Welt Ungeheuer herum?«
»Ich glaube nicht — noch nicht, jedenfalls.«
Wieder eine Komplikation mehr, erkannte Jared. Es war vielleicht gar keine Frage des Beliebens, sich auf den Weg zur Zerverwelt zu machen. Wahrscheinlich mußte er so schnell wie möglich aufbrechen.
»Nein, Jared. Geh nicht — bitte!«
Und er hatte mehr als selbstlose Sorge um sein Wohl entdeckt. Hinter Leas Worten wurden Anfälle verzweifelter Einsamkeit spürbar, durchwirkt mit der Angst, ihre Welt könne in die schreckliche Isolierung zurücksinken, aus der sie durch Jareds und Dellas Auftauchen gerissen worden war.
Aber er hatte sich entschlossen und bedauerte nur, keine Gelegenheit zu einem zweiten Gespräch mit dem Ewigen Mann zu haben.
Genau zu dieser Zeit jedoch hörte sein Klopfen auf.
Jared rannte zu ihm.
Und als er am Fluß vorüberkam, fragte Della: »Wohin läufst du denn?«
»Ich muß den Ewigen Mann hören. Dann ziehen wir weiter.«
Jared kauerte auf der Bank und fragte besorgt: »Können wir jetzt reden?«
»Geh fort«, stöhnte der alte Mann. »Du bringst es wieder so weit, daß ich mich erinnern muß. Ich will mich nicht erinnern.«
»Unsinn! Ich suche nach Licht! Du kannst mir helfen!«
Der alte Mann atmete schwer.
»Versuch doch, dich an das Licht zu erinnern!« flehte Jared. »Hat es irgend etwas mit den — den Augen zu tun gehabt?«
»Ich — weiß es nicht. Es scheint, als könnte ich mich an Helligkeit entsinnen — und — ich weiß nicht, was sonst.«
»Helligkeit? Was ist das?«
»Etwas wie — ein lautes Geräusch, ein durchdringender Geschmack, ein harter Schlag vielleicht.«