Jared hörte die Unsicherheit im Gesicht des Ewigen Mannes. Hier war jemand, der ihm vielleicht sogar sagen konnte, was er suchte! Aber der Ewige Mann sprach nur in Rätseln, die nicht klarer waren als die Legenden selbst.
Er bemühte sich, seine Ungeduld zu zähmen, indem er vor dem nickenden Skelett hin- und herging. Vor seiner Nase konnte die umfassende Antwort auf die Frage liegen, wie Licht dem Menschen Nutzen bringen würde, wie es alle Dinge zugleich berühren und sofortige, unglaublich verfeinerte Eindrücke vermitteln müßte. Könnte man nur den Schleier des Vergessens wegreißen!
Er versuchte es in anderer Richtung: »Wie steht es mit Dunkelheit? Weißt du darüber etwas?«
Er hörte, wie es den Alten schauderte.
»Dunkelheit?« wiederholte der Ewige Mann zögernd, voll plötzlicher Furcht. »Ich — oh, Gott!«
»Was ist denn los?«
Der Mann zitterte am ganzen Körper. Sein greisenhaftes Gesicht verzerrte sich zu einer tragischen Maske.
Jared hatte noch nie solche Angst gehört. Der Alte versuchte, sich aufzurichten, aber er sank zurück und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
»Oh, Gott! Die Dunkelheit! Die furchtbare Dunkelheit! Jetzt erinnere ich mich. Sie ist überall um uns!«
Entgeistert wich Jared zurück.
Aber der Eremit packte ihn bei der Hand und zog ihn mit der Kraft der Verzweiflung zu sich. Dann schrillten seine angstvollen Rufe durch die Welt, drangen hinaus in den Tunneclass="underline" »Spürst du, wie sie sich um uns schließt? Gräßliche, schwarze, abscheuliche Dunkelheit! Oh, Gott, ich wollte mich nicht erinnern! Du hast mich dazu gezwungen!«
Jared lauschte aufmerksam und erschreckt. Spürte der Ewige Mann die Dunkelheit — jetzt? Aber er hatte doch gesagt, sie sei ›überall um uns‹, nicht wahr?
Jared fühlte jedoch nichts als den kühlen Hauch der Luft. Trotzdem fürchtete er sich. Es war, als hätte die Angst des Alten auf ihn abgefärbt.
War Dunkelheit etwas, das man fühlte oder vielleicht sehte — vielmehr ›sah‹? Aber wenn man sie sehen konnte, konnte man doch dasselbe mit der Dunkelheit tun, wie der Kustos es beim Allmächtigen Licht für möglich hielt. Aber — was war es?
Für einen Augenblick wurde Jared von beklemmender Angst vor einer undeutlichen Gefahr befallen, die er weder hören noch fühlen oder riechen konnte. Eine üble, unheimliche Empfindung — ein Ersticken, eine Stille, die nicht Geräuschlosigkeit war, sondern ein ihr zugleich Fremdartiges und Verwandtes.
Als er Della fand, hielt sie sich bei Lea und Ethan auf. Gesprochen wurde nichts. Es war, als hätte der unfaßbare Schrecken auch sie erfaßt.
Della hatte bereits Nahrungsmittel in ihre Tragtasche gepackt, und Lea brachte resigniert Jareds Speere.
Schweigend gingen sie zum Ausgang. Auch beim Abschied fielen keine Worte.
Nach ein paar Schritten drehte sich Jared um und rief: »Ich komme wieder.« Er ließ seine Speere gegen die Felswand klappern, studierte die Echos und machte sich auf den Weg.
Die dunkle Welt der Guten Frau, des Kleinen Lauschers und des unglaublichen Ewigen Mannes verlor sich in den unergründbaren Tiefen der Erinnerung. Und Jared spürte beinahe schmerzhaft, daß er unwiederbringlich etwas verloren hatte, als ihm klar wurde, daß auch Erinnerungen aus Traumstoff bestehen und der einzige Beweis für die Existenz von Leas Welt im Widerhall seiner Gedanken zu finden sein würde.
11
Della sprach während des Marsches kaum ein Wort. Jared hörte an ihrer sorgenvollen Miene, daß sie von großer Unruhe geplagt wurde. Hatte er etwas gesagt oder getan, das sie bedrückte? Gründe genug für Befürchtungen und Zweifel hatte er ja geliefert.
Seit dem Abmarsch aus Leas Welt war ihm jedoch ein echoerzeugendes System eingefallen, das Dellas Argwohn wohl kaum zu erregen vermochte. Es bestand einfach darin, daß er eine Melodie nach der anderen vor sich hinpfiff.
Schließlich verengte sich der Tunnel immer mehr, und sie kamen sogar an eine Stelle, wo sie hindurchkriechen mußten. Auf der anderen Seite stand er auf und klopfte mit dem Speer auf den Boden.
»Jetzt können wir wieder aufatmen.«
»Wieso?« Sie richtete sich neben ihm auf.
»Rückwärts sind wir gegen Vampire gesichert. Durch einen so engen Tunnel können diese Fledermäuse nicht fliegen.«
Sie schwieg ein paar Herzschläge lang. »Jared —«
Hier kam die Frage, mit der sie so lange gezögert hatte. Aber er beschloß, ihr zuvorzukommen. »Da vorne befindet sich ein großer Tunnel.«
»Ja, ich zerve ihn. Ich —«
»Und es riecht hier stark nach Zervern.« Er wich einer schmalen Kluft aus, die im Widerhall seiner Worte zu erkennen gewesen war.
»Wirklich?« Sie beschleunigte ihre Schritte. »Vielleicht sind wir ihrer Welt ganz nahe!«
Sie erreichten die Tunnelkreuzung. Er blieb stehen und überlegte, ob sie sich nach links oder rechts wenden sollten. Plötzlich erstarrte er, umklammerte seine Speere fester. Mit dem Geruch der Zerver vermischte sich ein dumpfer, scheußlicher Gestank, der die Luft verpestete — ein unverwechselbarer Gestank. »Della«, flüsterte er, »hier sind vor kurzem Ungeheuer vorbeigekommen.«
Aber sie hörte ihn nicht. Begeistert war sie bereits in den rechts abzweigenden Korridor eingedrungen. Er konnte sie gerade um eine Biegung gehen hören.
Schlagartig drang das Poltern eines Felsrutsches zu ihm, gefolgt von einem Aufschrei.
Er raste auf das große, gähnende Loch zu, das den gellenden Schreckensruf des Mädchens verschluckt hatte.
Als er das lockere Gestein erreichte, schnippte er mit den Fingern, um einen Eindruck von der Krateröffnung zu gewinnen. Aus dem Geröll neben dem Grubenrand ragte ein großer Felsblock. Er legte die Speere auf den Boden; einer davon rutschte ab, kippte über den Rand und fiel in den Abgrund, mehrmals gegen die Wände klappernd.
Schließlich wurde es still.
Er trug den anderen Speer an eine sichere Stelle und schrie wild: »Della!«
Ihr angstvolles Flüstern erreichte ihn: »Ich bin hier unten — auf einem Sims.«
Er dankte dem Licht, daß ihre Stimme nicht weit entfernt war und noch eine Chance bestand, sie zu retten.
Er klammerte sich an den Felsblock, schwang sich hinaus über den Abgrund und schnippte wieder mit den Fingern. Die Echos verrieten ihm, daß sie auf einem Sims nicht allzuweit unter dem Kraterrand kauerte.
Seine ausgestreckte Hand berührte sie, und er packte ihr Handgelenk, hob sie hoch und schob sie am Geröll vorbei auf festen Boden.
Sie wichen vor dem Krater zurück, und ein letzter Stein rollte vom Hang, polterte in den Schlund. Die Echos der lauten Töne zeigten, daß sich Dellas nervliche Belastung langsam löste.
Er ließ sie einige Zeit weinen, dann ergriff er sie bei den Armen und zog sie hoch. Sein Atemgeräusch wurde von ihrem Gesicht reflektiert, und er lauschte der Art und Weise, wie die geöffneten Augen alles andere beherrschten. Er konnte beinahe ihr Starren fühlen, und für einen Augenblick glaubte er, das Wesen des Zervens entdecken zu können.
»Es war wie bei meinen Eltern!« Sie wies mit dem Kopf zum Abgrund. »Man könnte es als Omen betrachten — als wollte uns irgend etwas sagen, daß wir dort fortsetzen dürfen, wo sie aufhören mußten.«
Ihre Hände lagen auf seinen Schultern. Er zog sie an sich und küßte sie. Anfangs erwiderte sie seine Leidenschaft, dann kühlte sie merklich ab.
Er hob seinen Speer auf. »Also gut, Della, was ist los?«
Sie verlor keine Zeit, die längst vorbereitete Frage zu stellen: »Was soll das alles mit der Suche nach — Licht? Ich habe dich den Ewigen Mann anschreien hören. Ihn hast du auch nach der Dunkelheit gefragt. Und er war völlig verängstigt.«
»Es ist ganz einfach.« Er zuckte die Achseln. »Ich suche nach Licht und Dunkelheit.«
Er spürte ihre Verwirrung, als sie den Weg fortsetzten. Eine Mannafrucht polterte bei jeden! Schritt gegen ihre Tragtasche, und die davon erzeugten Echos vermittelten ihm ein ausreichendes Bild vom Korridor.