»Ich war derjenige, der sie hierher zurückgeschickt hat, als ich sie im Haupttunnel zervte.«
Die Frau packte ihn beim Arm. »Wo ist sie? Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie kam in den Unteren Schacht und suchte mich. Dadurch erfuhren die anderen, daß ich ein Zerver bin. Ich konnte nicht länger bleiben.«
»Wo ist mein Kind?« drängte die Frau.
Zögernd berichtete er, was Estel zugestoßen war. Man führte die weinende Frau fort, und mitleidsvolle Stille breitete sich aus.
»Ihr seid also unter dem Fels durchgeschwommen«, meinte Mogan nach einiger Zeit nachdenklich. »Glück für euch, daß ihr nicht in den Wasserfall geraten seid.«
»Dann können wir also bleiben?« fragte Jared erwartungsvoll. Er bemühte sich, seine Augen nicht abschweifen zu lassen.
»Für den Augenblick, ja.«
In der nun folgenden Stille spürte Jared eine geringfügige Veränderung in seinem Eindruck von dem Zerverführer. Aus irgendeinem Grund hielt Mogan den Atem an; sein Herzschlag war etwas beschleunigt. Jared konzentrierte sich auf die Auswirkungen und entdeckte jene besondere physische Anspannung, die bei einer Person mit ganz zielbewußten Absichten auftritt. Dann fing er den beinahe unhörbaren Eindruck von Mogans Hand auf, die sich langsam vor ihm hob. Er hustete ein wenig und erkannte in den Reflexionen dieses Lauts, daß diese Hand ergriffen werden sollte.
Ohne Zögern schoß seine Hand nach vorn und drückte die andere. »Hast du gedacht, daß ich das nicht zerven würde?« fragte er lachend.
»Wir müssen vorsichtig sein«, erwiderte Mogan. »Ich habe Schachtleute gezervt, die so gut hörten, daß man sie leicht für einen von uns halten konnte.«
»Warum würden wir denn hierherkommen, wenn wir keine Zerver wären?«
»Ich weiß nicht. Aber wir lassen uns auf kein Risiko mehr ein — vor allem im Hinblick auf diese Ungeheuer in den Tunnels nicht. Wir versiegeln den Eingang, bevor sie ihn finden. Aber was würde uns das nützen, wenn sie erführen, daß es noch einen Weg hierher gibt — den man noch dazu nicht blockieren kann?«
Mogan trat zwischen Jared und das Mädchen und führte sie fort. »Wir behalten euch im Auge, bis wir sicher sind, daß wir euch trauen können. Im übrigen kann ich mir vorstellen, wie ihr euch nach dieser Strapaze fühlt. Wir geben euch also Gelegenheit zum Ausruhen.«
Man führte sie zu nebeneinanderstehenden Quartieren — ›Hütten‹ hörte Jared einen Zerver sie nennen — und ließ sie durch rechteckige Öffnungen eintreten. Vor beiden Gebäuden stellten sich Wachen auf.
Jared, der unsicher in dem Raum stand, räusperte sich laut. Die Echos brachten Einzelheiten eines Quartiers, das sich grundlegend von den ihm bekannten Wohngrotten unterschied. Hier war man überall von der Form des Rechtecks ausgegangen. Ein Eßtisch bestand aus eng miteinander verknüpften Hülsen, die man über ein Gestell aus Mannastämmen gezogen hatte. Er legte seine Hand darauf und spürte dem Gewebe nach. Vier andere Stämme dienten, wie er hörte, als Beine.
Er gähnte, als habe ihn die Müdigkeit übermannt, und studierte dann das reflektierte Lautmuster. Um den Eßtisch standen Bänke gleicher Konstruktionsart. Die Schlafbank war ebenfalls ein zerbrechliches Ding, auch auf den hier anscheinend traditionellen vier Beinen stehend.
Er zuckte plötzlich zusammen, bemühte sich aber, nicht zu zeigen, daß er entdeckt hatte, wie man ihn belauschte — zervte, erinnerte er sich. In der rechten Wand befand sich in einiger Höhe eine Öffnung. Und er entdeckte dort jemand, der absichtlich flach atmete, um nicht aufzufallen.
Nun gut, das beste war wohl, so wenig wie möglich herumzugehen und dadurch die Möglichkeiten der Entdeckung zu verringern.
Er gähnte noch einmal auffällig und merkte sich die Position der Schlafbank. Dann ging er hinüber und legte sich nieder. Man erwartete doch Erschöpfung von ihm, nicht wahr? Warum also nicht erschöpft sein?
Auf der bequemen, weichen Mannafibermatratze liegend, kam ihm zum Bewußtsein, daß er wirklich Strapazen hinter sich hatte. Und es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war.
Schrei um Schrei drang in seinen Schlaf, und wieder erkannte er die Eindrücke als nicht hörbar.
Lea!
Er zwang sich in den Traum zurück und versuchte, tiefer zu dringen. Aber der regellose Kontakt brachte nur allgemeine Impressionen von Entsetzen und Verzweiflung. Er bemühte sich, Lea physisch näherzukommen, und es gelang ihm schließlich, das Band etwas enger zu machen.
»Ungeheuer! Ungeheuer! Ungeheuer!« schluchzte sie unaufhörlich.
Ihre Augen waren so fest geschlossen, daß es in ihren Ohren dröhnte; starke Hände packten sie bei den Armen, zerrten sie hierhin, dorthin; eine scharfe Spitze bohrte sich brutal in ihre Schulter; Gerüche breiteten sich aus, deren fremdartige Mischung Übelkeit verursachte.
Dann fing er die Eindrücke von Fingern auf, die sich in das Fleisch über und unter ihren Augen bohrten und die Lider zwangen, sich zu öffnen.
Und augenblicklich kreischten gellend alle Tiefen der Strahlung durch das Bewußtsein der Frau in ihm auf. Er erkannte das gewaltige Dröhnen des lautlosen Schalls als identisch mit dem Stoff, den die Ungeheuer an die Tunnelwände geworfen hatten. Aber jetzt brauste es mit unvorstellbarer Gewalt gegen Leas Augen. Er fürchtete, Lea wahnsinnig hören zu müssen.
Mit unmenschlicher Anstrengung riß er sich aus dem Alptraum, der kein Traum gewesen war, wie er sehr wohl wußte.
Was er durch die Augen der Guten Frau gehört hatte, konnte sicherlich nichts anderes als das Nuklearfeuer der Strahlung selbst sein. Es war, als hätte er die Grenzen der körperlichen Existenz überschritten, um die Qualen mitzuerleiden, die ihr die Atomdämonen zumaßen.
Zitternd lag er auf der Schlafbank, während der bittere Nachgeschmack dieser Erfahrung wie ein hartnäckiges Fieber haftenblieb.
Lea — dahin.
Ihre Welt — leer.
Die Tunnels — voll von ungeheuerlichen Menschen, die höhnende, kreischende, lautlose Echos schleuderten. Teuflische Wesen, die ihre Opfer lähmten, bevor sie sie verschleppten — wohin?
Ein Zerver trat ein, stellte eine Schale mit Nahrung auf den Eßtisch und ging, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Jared stand auf und stocherte in der Speise herum. Aber sein Interesse an der Mahlzeit versank in der Erkenntnis, daß bei seiner unvernünftigen Suche nach Licht und Dunkelheit die ihm vertrauten Welten zusammengebrochen waren.
Er fühlte die grimmige Gewißheit, daß es nie mehr so wie früher sein würde. Die bösartigen Wesen in ihrer fremdartigen Kleidung aus lose hängenden Geweben beanspruchten alle Welten und Tunnels; sie schienen ihre Macht mit wilder Entschlossenheit einsetzen zu wollen. Er war jetzt auch davon überzeugt, daß das Versiegen der heißen Quellen und das Absinken des Wasserspiegels in den Flüssen von den Ungeheuern geplant worden war.
Und er hatte seine Zeit damit vertrödelt, nach unwichtigen Dingen zu forschen, in dem Glauben, Licht sei etwas Begehrenswertes. Er hatte die soliden Dinge der materiellen Welt aus dem Griff gelassen und war einem Phantom nachgerannt.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er statt dessen die Bewohner der Schächte organisiert und den Kampf ums Überleben angeführt hätte. Unter Umständen wäre es sogar möglich gewesen, wieder ein normales Leben zu führen, mit Della als Partnerin. Vielleicht hätte er nicht einmal erfahren, daß sie zu den Andersartigen gehörte.
Aber nun war es zu spät. Man hatte ihn in einer Welt zum Gefangenen gemacht, die ihm den Schlüssel zum Rätsel Licht liefern sollte. Und sowohl er als auch die Zerver waren hilflose Sklaven der die Tunnels beherrschenden Ungeheuer.
Er schob die Schale weg und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Draußen waren die Geräusche einer aktiven Welt zu vernehmen — laute Unterhaltung, spielende Kinder, in der Ferne das Poltern von Felsblöcken, aufeinandergeschichtet vor dem Eingang. Teilnahmslos vermerkte er, daß diese Geräusche eine gute Echoquelle darstellten.