»Wir gehen nicht in die Richtung des Haupttunnels?«
»Entgegengesetzt. Dann brauchen wir uns wenigstens nicht mit bloßen Händen gegen die Vampire zu wehren.«
Jared stand auf und lehnte sich an die Felswand. Sie hätten vielleicht eine Chance gehabt, die Ungeheuer im großen Tunnel einzuholen, aber er mußte zugeben, daß die Vampire diese Absicht vereitelten.
»Wohin führt dieser Gang?«
»Ich bin noch nie hier gewesen.«
Jared erkannte, daß ihm keine andere Wahl blieb. Er folgte den Reflexionen ihrer Stimmen den Korridor entlang.
Als er später zum zweitenmal stolperte, fragte er sich, warum er in einem geräuschlosen Tunnel ohne Echosteine dahinwankte. Er tastete am Boden entlang, bis er ein Paar beinahe gleich große Steine gefunden hatte, dann begann er sie zu schütteln, bevor er den Weg fortsetzte.
Nach einer Weile sagte Mogan: »Du hörst recht gut mit diesen Dingern, nicht wahr?«
»Es geht.« Jared hörte plötzlich ein, daß er ganz grundlos mürrisch war, außer er nahm es dem Zerver übel, daß dieser ihn davor zurückgehalten hatte, Della zu erreichen — ein Bemühen, das keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
»Ich habe sehr viel Übung damit«, fügte er etwas freundlicher hinzu.
»Für jemand, der nicht zerven kann, mögen sie ja recht gut sein«, meinte Mogan, »aber mich würde der Krach wahnsinnig machen.«
Sie schritten einige Zeit schweigend dahin. Jared wurde von Verzweiflung übermannt, als er begriff, daß er Della vielleicht nie wiedersehen würde. Er wußte jetzt, daß er sich mit ihr in einer abgelegenen Welt niedergelassen hätte — und es wäre gleichgültig gewesen, ob sie ihm überlegen war oder nicht — solange sie zusammensein konnten.
Aber jetzt hatte er sie verloren; seine Welt war leer und trostlos geworden. Seine verzerrten Maßstäbe hatten ihn dazu veranlaßt, einer unsinnigen Suche nach Licht und Dunkelheit den Vorrang einzuräumen, anstatt sich zu fragen, wieviel ihm Della eigentlich bedeutete. Von nun an bestand der Sinn seines Lebens nur noch darin, sie zu finden, selbst wenn ihn das in die thermonuklearen Tiefen der Strahlung führte. Sollte es ihm nicht gelingen, sie den Ungeheuern zu entreißen, so traf ihn mit dem Versinken in der Strahlung die gerechte Strafe.
Sie kamen an einer Kluft vorbei, und der Zerveranführer ließ sich etwas zurückfallen, um neben Jared gehen zu können. »Della sagte, daß du nach Licht und Dunkelheit suchst.«
»Das ist vorbei«, knurrte Jared.
»Aber ich interessiere mich dafür. Wenn du ein Zerver gewesen wärst, hätte ich mich mit dir schon in unserer Welt unterhalten.«
Neugierig erkundigte sich Jared: »Worüber?«
»Ich gebe auch nichts auf die Legenden. Ich war immer der Ansicht, daß die Bezeichnung ›Großes Allmächtiges Licht‹ unnötige Verherrlichung einer ganz alltäglichen Sache ist.«
»Tatsächlich?«
»Ich glaube sogar zu wissen, was Licht ist.«
Jared blieb stehen. »Was ist es?«
»Wärme.«
»Wie kommst du darauf?«
»Überall um uns her ist doch Wärme, nicht wahr? Größere Wärme nennen wir ›Hitze‹, geringere ›Kälte‹. Je wärmer etwas ist, desto mehr Eindrücke vermittelt es einem Zerverauge.«
Jared nickte. »Und es unterrichtet dich über alle Dinge, ohne daß du sie zu fühlen, hören oder riechen brauchst.«
Mogan zuckte die Achseln. »Und das wird in den Legenden vom Licht behauptet.«
Irgend etwas stimmte hier nicht zusammen, aber Jared kam nicht dahinter. Vielleicht lag es an seiner Weigerung, zuzugeben, daß Licht etwas so Prosaisches wie Wärme sein konnte. Er setzte sich wieder in Bewegung und beschleunigte seine Schritte, als er hörte, daß sie sich einem größeren Tunnel näherten.
Im selben Augenblick sagte Mogan: »Ich zerve voraus einen Tunnel, der wesentlich größer ist als dieser hier.«
Jared eilte voran, die Echosteine schneller aneinanderschlagend, um der größeren Geschwindigkeit Rechnung zu tragen. Als er jedoch in den anderen Tunnel eindrang, blieb er abrupt stehen.
»Was ist los?« fragte Mogan.
Jared schnüffelte. »Der Gestank der Ungeheuer verpestet hier die ganze Luft! Aber das ist noch nicht alles. Man kann auch den Geruch von Leuten aus dem Unteren und Oberen Schacht unterscheiden.«
Die Echos seiner Steine zeigten ihm, daß sich der Zerverführer die Stirn wischte.
»Dieser Tunnel ist scheußlich!« rief Mogan. »Zuviel Wärme. Man kann nicht richtig zerven.«
Auch Jared hatte die Wärme gespürt, aber er beschäftigte sich mit einem anderen Problem. Diese Tunnelstrecke mit ihren Gesteinsformen wirkte vertraut. Ganz plötzlich fiel es ihm ein. Natürlich — sie standen kurz vor der Ursprungswelt! Er schüttelte seine Steine und entdeckte den Felsblock, hinter dem Owen und er sich bei der ersten Begegnung mit dem Ungeheuer versteckt hatten. Hinter der Biegung mußte sich der Eingang zur Ursprungswelt befinden, und dahinter kamen die Barriere und die Schächte.
»Welche Richtung schlagen wir ein?« fragte Mogan.
»Wir gehen nach links«, schlug Jared vor und machte sich auf den Weg.
Nach ein paar Schritten meinte er: »Du glaubst also, Wärme sei Licht.«
»Allerdings.«
»Und Dunkelheit?«
»Ganz einfach. Dunkelheit ist Kühle.«
Jared hatte jetzt den inneren Widerspruch erkannt. »Du irrst dich. Nur Zerver können Wärme und Kälte aus größerer Entfernung spüren. Nenne mir eine einzige Legende, in der Licht als alleiniges Eigentum der Zerver erscheint. Sämtliche Glaubenssätze gehen davon aus, daß alle Menschen wieder mit Licht vereinigt werden.«
»Darauf habe ich auch schon eine Antwort gefunden. Die Zerver sind eben der erste Schritt zur endgültigen Vereinigung.«
Jared wollte auch gegen diese Annahme protestieren. Er hatte aber eben eine Biegung hinter sich gebracht, als er erschrocken zurückwich. Seine Echos verrieten ihm die Einzelheiten einer neuerlichen Krümmung im Tunnel. Von dieser Biegung her spürte er jedoch einen gewaltigen Strom lautlosen Schalles ausgehen. Es war, als marschierten tausend menschlich-unmenschliche Wesen in seiner Richtung, alle kreischende Stille vor sich herschleudernd.
»Ich kann nicht das geringste zerven!« beschwerte sich Mogan.
Jared lauschte, hörte aber keine Laute von Ungeheuern hinter der Biegung. Vorsichtig schlich er weiter, entschlossen, diesmal die Augen offenzuhalten. Sein Gesicht verzerrte sich, als die Muskeln vergeblich versuchten, die Lider zu schließen. Zitternd und die Augen zusammenkneifend ging er weiter; er vergaß sogar, seine Echosteine zu benützen.
Mogan folgte in beträchtlicher Entfernung, von Zeit zu Zeit einen Fluch ausstoßend.
Jared erreichte die Biegung und hastete weiter, da er fürchtete, beim geringsten Zögern die Flucht zu ergreifen. Jetzt strömte dieser schreckliche Stoff mit der Gewalt von Hunderten heißer Quellen in seine Augen; er konnte sie nicht mehr offenhalten. Tränen liefen ihm über die Wangen, aber er rannte weiter, sich diesmal wieder der Echos seiner Steine bedienend.
Seine Beine wurden vor Angst schwer wie Blei. Denn von vorne kamen keine Echos zurück — überhaupt keine Echos! Das war doch unmöglich! Niemals hatte jemand einen Laut hören können, der nicht von allen Seiten reflektiert wurde. Und doch zeigte sich hier eine große, unfaßbare Lücke in einem Lautmuster!
Seine Furcht wurde schließlich zur unüberwindlichen Schranke, und er konnte keinen Schritt mehr tun. Regungslos wie eine Mannapflanze stand er da und stieß Rufe aus.
Kein Widerhall seiner Stimme, weder von vorne noch von oben, noch von den Seiten. Von hinten zeichnete der zurückkehrende Laut eine große Felswand, die an Höhe sogar die Zerverwelt um ein vielfaches übertraf. Und in dieser Wand entdeckte er die dumpfe Hohlheit des Korridors, den er eben verlassen hatte.