Erschreckt von seiner wachsenden Unfähigkeit stolperte er weiter. Ein paar Schritte später stieß er gegen die rechte Felswand und schürfte sich an einer zackigen Gesteinsformation den Ellenbogen auf.
Schlagartig erkannte er, daß wieder Licht erschienen war. Der Fleck lautlosen Schalls haftete vorne an einem Felsblock, wie jener andere Lichtfleck damals die Wand vor dem Oberen Schacht bedeckt hatte. Beinahe geräuschlos erfüllte es den Tunnel mit sanfter Wärme.
Jared schritt etwas sicherer aus, ließ seine Augen die unheimlichen Eindrücke der Gesteinsformationen und Hindernisse auffangen, die im Bereich dieses Stoffes der Ungeheuer lagen.
Die Vorsicht gebot ihm, diese unhörbaren Muster zu mißachten, aber sein Hörvermögen war durch die Begegnung mit der Strahlung bereits so beeinträchtigt, daß dieses schwache Licht gewiß den Ertaubungseffekt nur noch gering zu steigern vermochte.
Er brachte diese Tunnelstrecke ohne Zögern hinter sich, obwohl er seine Ohren überhaupt nicht gebraucht hatte. Als er jedoch um die nächste Biegung kam, brachte ihn plötzliche Angst zum Stehen.
Hier berührte ihn kein Licht mehr. Es war, als erstickte er in den schweren, lautlosen Falten des Vorhangs der Dunkelheit. Er spürte, wie er sich mit einer Gewalt herandrängte, die fremdartig, unheimlich, drohend wirkte.
Am liebsten wäre er schreiend weitergerannt, in der Hoffnung, nach erreichen des vertrauten Unteren Schachts nicht mehr von dieser entsetzlichen Furcht gequält zu werden.
Dann erinnerte er sich an den Ewigen Mann, der voll peinigender Angst vor etwas zurückgewichen war, das Jared damals nichts bedeutet hatte.
Aber das war jetzt anders. Jetzt wußte er, was Dunkelheit war. Sehr wohl konnte er jetzt das Entsetzen des Ewigen Mannes verstehen. Er lauschte angespannt. Nur Licht wußte, was sich in diesem undurchdringlichen Vorhang verbergen mochte, nur darauf wartend, ihn anzuspringen!
Es gelang ihm schließlich, aus der Ferne einen Laut aufzufangen. Bevor er jedoch die Flucht ergreifen konnte, kristallisierten sich die Höreindrücke zu Worten: »Dem Licht sei Dank — die Periode der Vereinigung ist gekommen.«
Er erkannte Philar, den Kustos.
Und ein paar Stimmen antworteten: »Dem Licht sei Dank.«
Philar: »Die Dunkelheit wird hinweggefegt werden.«
Stimmen: »Und das Licht wird herrschen.«
Es war beinahe ein Gesang. Aber den Worten fehlte die innere Überzeugung.
Jared ging der Gruppe entgegen.
Philar: »Wir werden unsere Augen öffnen und das Große Allmächtige Licht fühlen.«
Stimmen: »Und Dunkelheit wird es nicht mehr geben.«
»Kehrt um!« schrie Jared. »Ihr dürft hier nicht weitergehen!«
Die Leute blieben stehen, als er sie in der Dunkelheit erreichte.
»Wer ist das?« fragte der Kustos.
»Jared. Ihr könnt nicht —«
»Aus dem Weg. Wir haben erfahren, daß die Vereinigung bevorsteht.«
»Wer hat euch das gesagt?«
»Die Boten des Lichts. Sie sagten, daß wir unser Versteck verlassen und die Barriere übersteigen müssen.«
»Das ist doch eine Falle!« rief Jared. »Ich bin jenseits der Barriere gewesen. Dort findet ihr nur die Strahlung!«
»Als wir unklug genug waren, uns vor den Boten zu verbergen, haben wir das auch geglaubt.«
»Aber die Boten täuschen euch! Sie haben die heißen Quellen zum Versiegen gebracht!«
»Aber nur, damit wir unseren Verstand gebrauchen und die Welt verlassen. Deswegen haben sie auch Lichtpunkte an den Wänden angebracht. Deswegen hinterließen sie gelegentlich die Heiligen Röhren — damit wir uns langsam an Licht gewöhnen konnten.«
Philar drängte sich an ihm vorbei, die anderen folgten ihm.
»Kehrt doch um!« schrie ihnen Jared verzweifelt nach. »Ihr lauft in eine Falle!« Aber niemand beachtete ihn.
Er fluchte und setzte seinen Marsch zum Unteren Schacht fort, mehr denn je entschlossen, sich für einen Angriff auf die Strahlung zu rüsten.
Einige Zeit später erreichte er mit zahlreichen Schürfwunden und Prellungen den Unteren Schacht. Er hatte sich die Verletzungen zugezogen, obwohl ihm die Tunnels in der Nähe seiner Welt recht gut bekannt waren.
Er blieb am Eingang stehen und ließ die Spannung in sich abklingen. Hier war ihm alles so vertraut, daß er sich bewegen konnte, ohne Echosteine verwenden zu müssen.
Aber es gab keine Erleichterung, kein sanftes Gefühl der Heimkehr, keine freudige Erregung. Der erstickende, an den Nerven zerrende Vorhang der Dunkelheit wurde nur von einer tödlichen Stille durchbrochen, die der Welt beinahe etwas Feindseliges verlieh.
Ohne die regelmäßigen Töne des Echowerfers war die ganze Welt eine riesige, abschreckende Echoleere. Er klatschte in die Hände und lauschte dem entsetzlichen Schweigen.
Nicht länger verlieh das sanfte Gurgeln der heißen Quellen wirkliche und hörbare Wärme. Da drüben, zur Linken, prägten sterbende Mannapflanzen den Reflexionen rauhe Dissonanzen auf.
Irgendwo draußen im Dunkel schwebte die gräßliche Angst, die aus dem Ewigen Mann wilde Entsetzensschreie hervorgepreßt hatte. Jared konnte fühlen, wie sich der Schrecken auch um ihn schloß. Aber er zwang sich dazu, wieder an seine Aufgabe zu denken, und machte sich auf den Weg zum Waffenregal.
Wieder klatschte er in die Hände, um in groben Umrissen ein Lautmuster der Umgebung zu gewinnen. Seine Erinnerung fügte automatisch die Einzelheiten hinzu.
Er schrie vor Schmerz auf, als beim nächsten Schritt sein Knie gegen unverrückbares Gestein stieß. Er konnte das Gleichgewicht nicht halten und stürzte über das Hindernis.
Er richtete sich auf, massierte sein Bein und fluchte über den unvernünftigen Überlebenden, der gegen das Gesetz verstoßen hatte. Aber sein Zorn legte sich, als ihm klar wurde, daß auch er beim Angriff der Ungeheuer Felsblöcke als Hindernisse aufgestellt hätte.
Von rechts ertönte ein Laut; er fuhr herum. Jemand verbarg sich in einem Felsspalt, hilflos schluchzend — eine Frau. Sie preßte die Hand auf den Mund.
Er trat auf sie zu, und sie schrie: »Nein! Nein! Nicht!«
»Ich bin's — Jared.«
»Geh weg!« schrie sie. »Du gehörst zu ihnen!«
Er erkannte Seniorin Glenn, eine ältliche Witwe. Hilflos horchte er zu Boden. Er konnte ihre Angst nicht beschwichtigen, ihr keine Sicherheit geben.
Und als er in diese geisterhafte Welt hineinlauschte, die von den Ungeheuern verheert worden war, begriff er, daß der Untere Schacht niemals mehr bewohnt werden würde. Die Dämonen hatten dieser Welt ihren Sinn genommen.
Aber jetzt würde er Rache in ihre Unendlichkeit tragen! Dies schwor er im Namen jeder echten Gottheit, gegen die sich die Überlebenden durch ihre Verehrung des falschen Allmächtigen Lichts vergangen hatten.
Er drehte sich um und hastete zum Waffenregal.
»Nein! Geh nicht fort!« flehte die Frau. »Überlaß mich nicht den Ungeheuern!«
Er streckte die Hand ins erste Fach, für einen Augenblick befürchtend, daß er dort nichts finden würde. Aber seine Finger schlossen sich um einen Bogen. Er zog ihn heraus und hängte ihn sich über die Schulter. Das zur Vergeltung für den Untergang des Unteren Schachtes! Zwei Köcher mit Pfeilen hängte er neben den Bogen. Diese Pfeile für Della und den Primär. Einen dritten Köcher schnallte er an der anderen Schulter fest. Für Owen!
Er griff ins nächste Fach, fand ein Bündel Speere und klemmte sie unter den linken Arm. Für Cyrus, den Denker! Ein zweites Bündel unter den rechten Arm. Für Lea, Ethan und den Ewigen Mann!
»Komm zurück!« jammerte die Frau. »Laß mich hier nicht allein! Beschütze mich vor den Ungeheuern!«
Sie hatte die Felsspalte verlassen, und er hörte, wie sie in die Welt hinauskroch, die Richtung zum Eingang einschlagend, um ihm den Weg zu verlegen.