»Außer im Komplex Elf«, fügte Charles hinzu. »Dort ging es nicht so glatt.«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Thorndyke. »Wir müssen aber noch einmal zurückgehen. Nach allem, was ich gehört habe, Fenton, sind Sie ein Ungläubiger — Sie hatten nie die Idee akzeptiert, daß das Licht Gott sei. Inzwischen dürften Sie eine recht gute Vorstellung davon haben, was es wirklich ist, wenn Sie auch aus lauter Eigensinn die Augen nicht öffnen wollen. Auf jeden Fall gehen wir von hier aus weiter:
Licht ist etwas so Natürliches, wie zum Beispiel das Geräusch eines Wasserfalls. In seiner ursprünglichen Form wird es im Übermaß von der Erscheinung ausgestrahlt, die Sie als Wasserstoff in Person bezeichnen werden, wenn Sie sie sehen. Wir haben auch die Möglichkeit, das Licht künstlich zu erzeugen, wie Sie ja inzwischen wissen. Jede einzelne der damaligen Schutzanlagen besaß ihr eigenes Lichterzeugungssystem bis zu dem Zeitpunkt, als die Leute in die Außenwelt zurückkehren konnten.«
Charles unterbrach: »Nur in Ihrem Komplex war das anders. Nach ein paar Generationen verloren Ihre Leute die Fähigkeit, mit diesen Systemen zurechtzukommen, sobald ein Defekt eintrat. Und dazu kam es leider auch.«
»Irgendeine Maschine versagte«, fuhr Thorndyke in seinem Bericht fort. »Und dann — nun, das Licht erlosch. Gleichzeitig versagte ein Großteil der Leitungen, die heißes Wasser in den großen Schutzraum pumpten. Ihre Leute mußten tiefer in die Schächte vordringen und andere Räume bewohnen, die für den Fall vorgesehen waren, daß sich die Bevölkerung rascher als erwartet, vermehren würde.«
Jared erkannte in verschwommenen Umrissen ein Bild dessen, was man ihm glauben machen wollte. Aber es war so unfaßbar — soweit er es zu begreifen vermochte —, daß sich die Logik dagegen auflehnte. Wer konnte sich zum Beispiel vorstellen, daß die ganze Unendlichkeit voll von feindseligen Leuten war? Dabei klangen die Stimmen von Thorndyke und Charles nicht bedrohlich, im Gegenteil, sogar beruhigend.
Aber nein! Genau diese Reaktion wollten sie ja bei ihm hervorrufen. Sie bemühten sich, durch Tricks sein Zutrauen zu erschleichen. Trotzdem war er entschlossen, sich nicht davon abbringen zu lassen, daß er Della befreien und mit ihr die Flucht aus der Strahlung wagen würde.
Er öffnete die Augen, ließ sie aber nur kurz auf Thorndyke ruhen. Daneben sah er das Fenster mit den geöffneten Vorhängen. Dahinter erhob sich die riesige Felswand mit dem dunklen Loch der Tunnelmündung.
Als die Lichteindrücke noch schärfer wurden, erstarrte er. In der Ferne entdeckte er zahlreiche, sich bewegende Gestalten — Gestalten, die entweder Überlebende oder Ungeheuer sein mußten, die aber nicht größer waren als sein kleiner Finger. Und er sah jetzt auch, daß die Öffnung des zu seiner Welt zurückführenden Tunnels nicht größer war als der Nagel an seinem Finger!
Charles mußte bemerkt haben, daß sich Jareds Gesicht vor Schreck verzerrte. »Was hat er denn?«
Aber der andere lachte nur. »Das sind die ersten Erfahrungen mit der Perspektive. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen, Fenton. Sie werden sich daran gewöhnen, daß Dinge in größerer Entfernung klein erscheinen. Stimmen in der Nähe klingen doch auch lauter als solche, die aus weiter Ferne kommen, nicht wahr?«
»Für einen Anfänger sieht er schon recht gut«, meinte Charles.
»Ich würde sagen, daß er den anderen schon um ein paar Schritte voraus ist. Wahrscheinlich war er schon vorher im Freien. Das stimmt doch, Fenton?«
Aber Jared gab keine Antwort. Mit geschlossenen Augen beklagte er die Tatsache, daß die Schrecken der Unendlichkeit furchtbarer waren, als er geahnt hatte. Er mußte zu seiner Welt zurück!
»Zurück zum Schutzraum Elf«, unterbrach Thorndyke seine verängstigten Gedanken. »Als Ihre Leute die Haupträume verließen, blieben Erkenntnis und Vernunft zurück. Das fanden wir heraus, nachdem wir die Abdichtung beiseite schafften und zum erstenmal in die Tunnels eindrangen. Übrigens sind wir Angehörige einer Expedition aus dem Komplex Sieben, schon vor etwa einer Generation aus den Höhlen entlassen. Wie erwähnt, stießen wir in einem Ihrer Tunnels auf einen einzelnen Überlebenden. Nachdem es mir schließlich gelungen war, ihn niederzuringen, konnten wir uns ausrechnen, was geschehen war.«
»Es handelte sich um einen Überlebenden aus dem Oberen Schacht«, bemerkte Charles. »Wir brauchten Wochen, bis wir ihm ein bißchen Logik beigebracht hatten. Zur selben Zeit wurde uns klar, daß wir die übrigen Leute nicht einfach wieder an die Sonne bringen konnten, indem wir vor sie hintraten und sagten: ›Hier sind wir, das ist Licht, und jetzt gehen wir alle schön hinaus.‹«
»Das ist richtig«, bestätigte Thorndyke. »Bis wir die Lage überprüfen konnten, mußten wir langsam vorgehen und einen Überlebenden nach dem anderen überfallen. Wir konnten nicht in Massen anmarschieren, bevor wir nicht alle Höhlen und Nischen kannten, in denen Ihre Leute sich zu verbergen vermochten.«
Langsam ergab sich Sinn aus den Worten, und Jared zwang sich, liegenzubleiben und zuzuhören.
Thorndyke stand auf und lachte. »Wir hatten geplant, ein paar Überlebende umzuschulen und sie dann ohne Licht zurückzuschicken, damit sie den anderen die Wahrheit langsam beibringen sollten.«
»Das klappte aber nicht«, sagte Charles. »Sobald sich jemand von euch daran gewöhnt hat, seine Augen zu benutzen, kommt er im Dunkeln ohne Licht nicht mehr zurecht. Die meisten haben sogar Angst vor den Tunnels und Grotten.«
Thorndyke rieb sich die Hände. »Das sollte vorerst genügen, Fenton. Denken Sie darüber nach. Ich habe das Gefühl, daß Sie beim nächstenmal einiges fragen möchten. Wir bringen dann ein paar Leute mit, die Sie kennen und denen Sie vertrauen.«
Jared öffnete die Augen und sah die beiden den Raum verlassen. Zu seiner Bestürzung bemerkte er, daß sie hinsichtlich der Perspektive recht gehabt hatten. Je weiter sie sich entfernten, desto kleiner wurden sie.
Er stemmte sich verzweifelt gegen seine Fesseln, aber ohne Erfolg. Dann wandte er sein Gesicht der gegenüberliegenden Wand zu. Augenblicklich flutete grelles Licht in seine Augen, und er schrie erschreckt auf. Von einer Ecke des Fensters her kreischte ein Segment jener großen Scheibe, von der Thorndyke bestritten hatte, daß es sich um Wasserstoff handelte. Näherte sie sich seiner Hütte — wollte sie ihn überfallen?
Entsetzt bäumte er sich mit aller Kraft gegen die Fesseln auf. Sie zerrissen und fielen zu Boden, gerade als er die Hitze jener — Sonne hatte Thorndyke sie genannt — auf seinem Körper immer stärker spürte. Er stürzte zur Tür und kratzte hilflos an dem starren Vorhang, bis seine Fingernägel brachen. Nach einem Augenblick des Zögerns rannte er durch den Raum und warf sich durchs Fenster. Er landete auf den Füßen und bemerkte, daß die Sonne nicht so nahe herangekommen war, wie er befürchtet hatte. Aber es gab andere Komplikationen. Die seinen Augen vermittelten Eindrücke sagten ihm, daß seine Hütte nur eine in einer ganzen Reihe von Gebäuden war. Nur erwies sich jede folgende Hütte als ein wenig kleiner, bis die letzte kaum größer war als seine Hand!
Überdies begannen all die Leute, die er in der Ferne gesehen und gehört hatte, auf ihn zuzulaufen und zu rufen. Und obgleich sie kleiner waren als sein Finger, wurden sie um so größer, je näher sie heranrückten.
Verwirrt drehte er sich um und raste den Abhang zu dem Erdwall hinauf, der die Tunnelmündung umgab.
»Ein Ausreißer! Ein Ausreißer!« wurde hinter ihm geschrien. Er taumelte über ein Hindernis, das er nicht gehört hatte, und raffte sich mühsam auf. Die Hitze von dem großen Ding, das ›Sonne‹ genannt wurde, peitschte gnadenlos auf seine nackten Schultern und den Rücken hinab, als er sich den Hang hinaufquälte und der Tunnelmündung immer näher kam.
Das gähnende, dunkle Loch teilte sich, und die beiden Öffnungen wichen auseinander. Er bemühte sich, seine Augenmuskeln unter Kontrolle zu bringen. Schließlich verschmolzen die beiden Löcher wieder miteinander. Keuchend erreichte er die Tunnelmündung.