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Auch Hanno stand das Staunen ins Gesicht geschrieben. Die Straßen schienen mit unendlichen Möglichkeiten gepflastert, jedes Haus auf den Eckpfeilern von Fortschritt und Wohlstand zu ruhen. Immer wieder versicherte er sich mit glänzenden Augen, ob Betje die Stadt genauso überwältigend, genauso aufregend empfand wie er selbst.

Einen Brief seiner Schwester wie einen Glücksbringer in der Hand, fragte er sich durch die unbekannten Straßen, die ungewohnte Mundart. Cremon hieß ihr Ziel. Ein fremdartiger Name, der auf Betjes Zunge nach Butter, Zucker und Sahne schmeckte. Wie die Rullekes, die es zu Hause an Neujahr gab.

Cremon war dort, wo es feucht roch, malzig und ein bisschen rauchig wie geröstetes und gequollenes Getreide. Der schieferdunkle Kirchturm über den Dächern, so hoch, dass er das Gewicht des Himmels zu stützen schien, ließ seinen Stundenschlag in die krumme Gasse hinuntertropfen.

An einem der schlanken, beim Nachbarn untergehakten Häuser machte Hanno halt, zog die Kappe vom Kopf und klopfte an.

Die Tür öffnete sich auf eine robuste Person, Haube und Schürze schwanenweiß und so stramm gestärkt, dass sie von allein hätten stehen können. Mit dem Kopf ruckte die Frau auffordernd in Hannos Richtung.

»Moin. Ich möchte bitte zu Frauke. Ich bin ihr Bruder.«

Die wasserblauen Augen spießten Hanno auf.

»Gibt niemanden hier, der so heißt.«

Die Tür klappte zu. Hanno ließ sich davon nicht entmutigen und klopfte gleich noch einmal an.

Seine Hartnäckigkeit war der Frau an der Tür sichtlich lästig. »Hörst du schlecht?«

»Das ist doch das Haus von Kaufmann Reck, oder nicht?«

Betje konnte einen Blick auf die hinter der Tür gestapelten Säcke erhaschen. Ein Durcheinander von betriebsamen Stimmen fing sich an der Decke des hohen Raums, und ein gut gekleideter Herr eilte die Treppe mit dem kostbar geschnitzten Geländer herab.

»Gibt hier trotzdem keine Frauke!«

Mit Nachdruck fiel die Tür ins Schloss.

Verwirrt betrachtete Hanno den Brief in seiner Hand, während er sich ein paar Schritte vom Haus entfernte. Betje folgte seinem Blick die Mauer hinauf, mit Schnörkeln und Tierfiguren aus Stein verziert, hin zu den mit duftigen Spitzen verhängten Fenstern. Hier war zweifellos das Geld zu Hause.

Ein zaghaftes Wispern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zur Tür. Ein Mädchen, nicht viel älter als Hanno, streckte den Kopf heraus, rundwangig unter der viel zu großen und nicht ganz so weißen Haube.

»Bist du Hanno?«

Nach einem vorsichtigen Blick über die Schulter schob es mit der Schuhspitze einen Holzkeil in den Türspalt und schlüpfte auf die Gasse hinaus.

»Frauke ist nicht mehr da«, flüsterte das Mädchen hastig, in einer Mundart, die Hannos und Betjes nicht unähnlich war. »Schon seit ein paar Wochen. Bei ihr war was Kleines unterwegs, und die Gnädige hat’s spitzgekriegt.«

»Wo ist sie hin?«, wollte Hanno wissen.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern.

»Hat keinem was gesagt. Kam wohl auch nicht mehr dazu, hat bei Nacht und Nebel packen müssen.«

Seine Hände strichen unruhig über die fleckige Schürze. Immer wieder schielte es ängstlich zur Tür, schien beständig mit einem Ohr ins Haus zu lauschen.

»Versuch’s mal in der Neustadt. In den Gängen beim Großen Michel. Sankt Michaelis. Ich glaube, sie hatte ihren Liebsten dort.«

»Weißt du zufällig, wie er heißt?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Hab ihn auch nie gesehen. Ich weiß nur, dass sie da manchmal hin ist, wenn sie den halben Tag freihatte.«

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, bewegte es sich wieder zur Tür. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Wenn du sie findest, sag ihr einen Gruß von Wienke. Ist nicht mehr dasselbe hier ohne sie.«

Lautlos schloss sich die Tür hinter dem Mädchen.

Betreten sah Betje zu Hanno, für den es jedoch im Augenblick nichts Wichtigeres zu geben schien als den Reiher, der mit geruhsamem Flügelschlag über die Dächer flog, ein Silberstreif am wolkengemaserten Himmel. In einer entschlossenen Bewegung setzte er die Kappe wieder auf und wandte sich Betje zu, die Nase keck gekraust.

»Komm, wir sehen uns mehr von Hamburg an.«

Die Neustadt von Hamburg war alt und verwahrlost, eng und verwinkelt. Erdrückend für Betje, die in der Weite des Marschlands großgeworden war. Die schiefen Häuschen schienen immer noch weiter zusammenrücken zu wollen, um aneinander Halt zu finden. Gramgebeugt wirkten sie, unter der strengen Wachsamkeit des Kirchturms von Sankt Michaelis, das Gold seines Ziffernblatts ein Sonnenstrahl, der sich niemals hier herunter verirren würde, unerreichbar fern blieb.

Sogar am hellen Tag war es dämmrig. Alles an Licht, an Farbe war zu einem hässlichen Grau ausgelaugt, die Mauern und Balken, die Kleidung und die Gesichter der Leute. Die Schritte und Bewegungen und Stimmen beschwert von Mühsal und Trostlosigkeit, abgebeizt von den Schwaden menschlicher Ausdünstungen und Ausscheidungen, von Moder und Kohlgeruch und dem Qualm der Feuerstellen.

Auch Betje spürte Müdigkeit in ihre Knochen sickern, nach so vielen Meilen am Ziel angelangt und doch weiter von Gasse zu Gasse ziehend, während Hanno unermüdlich nach seiner Schwester fragte.

Irgendwann ließ er sich an Ort und Stelle niedersinken, nahm die Kappe ab und fuhr sich durch die Haare. Für den Augenblick war seine immerwährende Zuversicht in sich zusammengesackt wie ein Haufen Mehl, über dem man ein Ei aufschlug.

Betje setzte sich neben ihn.

»Wie lange hast du deine Schwester nicht mehr gesehen?«

»Zwei Jahre.«

Dass Frauke einmal ein kleines Mädchen gewesen sein sollte, hatte er sich nie vorstellen können, zu erwachsen war sie ihm immer schon vorgekommen. Als wäre er gleich von zwei Müttern großgezogen worden, leichtherzig und flirrend die Ältere, vernünftig und manchmal überstreng die Jüngere. Erst als Frauke nicht nur vom Hof wegwollte, sondern gleich ganz aus dem Moormerland, hatten sich die Rollen von Mutter und Tochter umgekehrt.

»Unsere Mutter hat sie lange nicht gehen lassen. Aber als Aneke aus dem Dorf ihr Bündel für Hamburg schnürte, durfte dann auch Frauke mit.«

Trotzdem hatte sich seine Mutter Sorgen gemacht, ob ein Mädchen vom Land sich in der großen Stadt zurechtfinden und dort nicht unter die Räder kommen würde, bis zuletzt.

»Ich hab ihr zwar geschrieben, wie schlecht es um unsere Mutter steht. Aber als ich dann nichts hörte … Ich dachte eben, mein Brief ist noch unterwegs. Oder ihre Antwort darauf. Dass sie sich vielleicht erst sammeln muss. Ich hab auch gar nicht damit gerechnet, dass sie zum Begräbnis kommt, länger als ein oder zwei Tage hätte ihr die Herrschaft bestimmt nicht freigegeben. Ich wusste ja nicht …«

Hilflos wirkte er, das erste Mal, seit Betje ihm begegnet war.

Ihr Blick wanderte durch die Gasse. In diesem finsteren Irrgarten aus Häuschen und versteckten Winkeln, der an manchen Ecken geradezu an eine Güllegrube erinnerte, schien es gut möglich, dass ein Mensch einfach verloren ging.

»Vielleicht hat sie inzwischen geschrieben, und der Brief liegt jetzt bei dir zu Hause.«

Hanno nickte, einen angestrengten Ausdruck auf dem Gesicht. Irgendwo hinter ihm brüllte ein Säugling aus vollem Hals, schaukelte sich das Kreischen zweier Kleinkinder aneinander auf.

Ein seltsamer Gedanke, dass seine Schwester jetzt genauso dastehen sollte wie ihre Mutter früher, mit dickem Bauch, aber ohne Mann. Doch womöglich irrte er, und Frauke war mittlerweile verheiratet, hier in der Stadt oder draußen auf dem Land, in einem kleinen Häuschen mit Gemüsebeeten vor der Tür. Seine Miene hellte sich auf.

»Stell dir vor, ich werde Onkel. Bin es vielleicht schon.«

Ein kleines Lächeln wanderte zwischen ihnen hin und her.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Betje.

»Warten.«

»Worauf?«

Er zuckte mit den Schultern und fischte im Tornister herum, der in den vergangenen Tagen stark abgemagert war.