Выбрать главу

»Auf eine Eingebung. Oder auf sonst etwas.«

»Und wenn aber nichts geschieht?«

»Irgendwas tut sich immer. Wirst sehen.«

Zweifelnd nahm Betje den Apfel, den Hanno ihr hinhielt, bevor er selbst die Zähne in einen schlug, die letzten beiden Äpfel, die ihnen geblieben waren.

»Ich habe außerdem ein bisschen Geld«, erklärte er zwischen zwei Bissen. »Das reicht auf jeden Fall für Brot und Wurst. Vielleicht sogar, um uns irgendwo für die Nacht unterzubringen. Und morgen ist sowieso immer ein besserer Tag.«

Ein mutwilliges Grinsen lauerte in seinem Mundwinkel; Betje hätte nicht sagen können, ob sie ihn für leichtsinnig halten sollte oder schlicht für einen geborenen Glückspilz.

»Wie viel Geld hast du denn?«, erkundigte sie sich zögerlich.

Hanno fasste in die Hosentasche und hielt Betje die Münzen auf der flachen Hand hin.

»Achteinviertel Stüver«, stellte sie mit einem kurzen Blick fest, und sogleich sprudelte es nur so aus ihr heraus: »Zu Hause gibt es dafür zwei Pfund Käse oder fünf Pfund Brot. Ein halbes Pfund Butter und Speck. Oder einen ganzen Sack Erbsen und einen Sack Bohnen.«

Sie verstummte jäh, als sich Hannos Brauen hoben, vielleicht anerkennend, vielleicht belustigt. Seine Augen ruhten auf ihr, forschend und fast andächtig, bis Betje unwillig den Kopf abwandte.

Schweigend verzehrten sie ihre Äpfel, wischten sich die klebrigen Hände an den Kleidern ab. Umspült von dröhnenden Männerstimmen und weiblichem Gekeife, vom Klappern und Scheppern und Hämmern alltäglicher Handgriffe.

Ein großer Hund, schwarzbraun und zottig, stromerte die Gasse entlang, die Schnauze auf den Boden gerichtet, als wollte er eine Furche durch den Unrat ziehen. Auf Hannos Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, schnalzend und fingerschnipsend lockte er das Tier an. Der Hund warf einen Blick zurück, als wollte er um Erlaubnis bitten, bevor er auf Hanno zutrabte. Lachend kraulte Hanno ihm das dicke Fell und murmelte liebevoll auf ihn ein. Wie er es auf den Höfen unterwegs mit den Kühen und Schafen getan hatte, den Hütehunden und den Katzen; sogar für die Hühner und Gänse hatte er freundlich klingende Laute übrig gehabt.

»Wie heißt er?«, rief Hanno über die Gasse.

Der Mann, der zu dem Hund gehörte, war breitschultrig unter der staubigen und von Spinnweben verklebten Jacke, geradezu bullig. Helle Bartstoppeln glommen im kräftigen Gesicht, speckig von Schweiß und Schmutz. Jung wirkte er, obwohl das, was die Mütze von seinen Haaren sehen ließ, ebenso von schmutzigem Blond sein konnte wie vorschnell ergraut. In seinen Augen schien nicht das kleinste Fünkchen Wärme auf, frostig blau waren sie. Fast glaubte Betje, den Raureif eines Wintermorgens in der Marsch knistern zu hören, und unwillkürlich duckte sie sich.

»Er heißt Pies«, rumpelte es aus dem Brustkasten des Mannes herauf.

Die Ohren des Hundes zuckten. Er streifte seinen Herrn mit einem fragenden Blick und stieß dann Hanno auffordernd mit der feuchten Schnauze an.

»Pi-es«, wiederholte Hanno mit derselben Betonung. Die Finger im Pelz vergraben, sah er dem Hund tief in die Augen. »Du hast ja einen lustigen Namen.«

»Hund auf Polnisch.«

Hart und flach kamen die Worte aus dem Mund des Mannes wie Kieselsteine, die über seine Zunge rollten.

»Warum einfach nur Hund

Der Mann verzog keine Miene.

»Weil er mir nicht sagen konnte, wie er wirklich heißt, als er mir zugelaufen ist.«

Hanno lachte.

Pawel musterte die beiden Kinder, die vor ihm auf der Gasse saßen. Nicht so, wie die Kinder dieses Viertels üblicherweise herumlungerten, wenn sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten, oder zu müde, zu hungrig für alles andere waren. Kinder, die nie ein anderes Leben gekannt hatten und wohl auch kein anderes mehr kennenlernen würden, manche von ihren Eltern im Stich gelassen, verwaist oder davongelaufen. Schwemmholz wie sie alle hier, von unerbittlichen Strömungen angespült. Der Beifang in den Netzen des Schicksals.

Diese beiden schienen voll ungetrübter Hoffnung zu sein und auf Besseres zu warten. Ahnungslos, dass so etwas nicht kommen würde. Nicht hier.

»Sind Sie schon einmal meiner Schwester begegnet?«, fragte der Junge ins Blaue hinein. »Frauke Reintjes? Sie ist fast neunzehn. Groß für ein Mädchen, sehr blond und sehr hübsch.«

Pawel schüttelte den Kopf. Er verschwendete keine Zeit damit, auf Mädchen zu achten, hübsch oder nicht. Ihre Namen waren ihm gleichgültig und genauso, woher sie kamen und wohin sie mit schwingenden Röcken gingen.

Früher einmal, ja, da war das anders gewesen. Bis er sich ein Mal zu oft verbrannt hatte, seitdem war er sich selbst genug, taub für den Sirenengesang ihrer Stimmen.

Der Junge senkte den Blick wieder auf Pies und ging ganz darin auf, die weichen Schlappohren zu kneten.

Aufgeweckt schienen sie beide, der Junge ebenso wie das rothaarige Mädchen, wenn auch von einer fast schon rührenden Naivität.

Pawel dachte daran, was aus ihnen werden würde, blieben sie hier hängen. Zwischen all den anderen Kindern, die darum rangelten, wer der Stärkere war und sich die meisten Rechte erkämpfte. Die sich gegenseitig mit Zähnen und Klauen eine warme Jacke abjagten, ein Paar Schuhe, sogar ein Stück Brot.

Vor allem das Mädchen würde es schwer haben mit seinem verkrüppelten Arm.

»Habt ihr einen Platz zum Schlafen?«

Der Junge hob den Kopf. »Wissen Sie einen?«

Pawel zögerte. Den wenigsten hier gelang ein anständiges Leben, wenn auch nur ärmlich und auf das Allernötigste beschränkt. Rundum war die Not groß, ein gähnender Schlund, in dessen Finsternis jedes Bröckchen, das man hineinwarf, ungesehen verschwand.

Es gab nicht viel, was Pawel tun konnte, er kam selbst gerade so über die Runden. Alte oder kaputte Spielsachen, die er bei seinen Streifzügen auflas, konnte er flicken und dann an die Kinder verteilen. Ihnen die Dose Zuckerzeug mitbringen, die er nach dem Tod einer alten Dame beim Ausräumen der Wohnung fand, und den Wäschekorb mit abgelegten Kinderkleidern, stockfleckig und von Motten angenagt. Nicht mehr als ein paar Regentropfen in einem Dürresommer. Aber vielleicht genug, um so etwas wie Hoffnung aufkeimen zu lassen, wenigstens für ein paar Stunden, einen Tag lang.

Seit dem Morgengrauen war Pawel von Haus zu Haus gezogen, um nach Altem, Unbrauchbarem, Unnützem zu fragen, hatte sich durch Unrat und Ungeziefer gewühlt, durch Staub und Mäusekot. Jetzt wollte er nur noch etwas essen und seine Ruhe. Trotzdem widerstrebte es ihm, die beiden hier auf der Gasse ihrem Schicksal zu überlassen, zudem sah es nach Regen aus.

Er deutete auf den vollgepackten Leiterwagen hinter sich.

»Wenn du mir damit zur Hand gehst«, sagte er zu dem Jungen, »könnt ihr heute Nacht bei mir unterkommen.«

Betje blieb nichts anderes übrig, als hinter dem von Pawel und Hanno gezogenen Leiterwagen her zu trotten. Kreuz und quer durch Gassen und Hinterhöfe, die enger zu werden schienen und finsterer. Fiel sie zu sehr zurück, blieb Pies stehen und wandte mit aufforderndem Hecheln den Kopf wie ein Hütehund nach einem saumseligen Lamm.

In Pawels Werkstatt stapelten sich packenweise Lumpen, ausgeweidete Uhren, zersplitterte und wurmstichige Möbel. Aufgehäufte Metallteile glänzten im schwachen Licht, in ausgepolsterten Kisten schimmerten Glas und Porzellan. Das Nest einer wenig wählerischen Elster.

»Was kaputt ist oder die Leute nicht mehr wollen«, beantwortete Pawel mit seiner tiefen Stimme Hannos neugierige Fragen. »Ich richte her, was ich kann. Sonst zerlege ich es und mache etwas Neues daraus oder verkaufe, was an Brauchbarem übrig bleibt. Brennholz geht in der Stadt immer gut.«

»Warum hast du kein Schloss an der Tür?«, wollte Hanno wissen, während er weitere Stoffbündel aus dem Leiterwagen lud, einen dreibeinigen Stuhl, verbeulte Kupfertöpfe.

Jetzt schon ging er mit Pawel um wie mit einem vertrauten Freund.

Pawel zuckte mit den Schultern. »Wer unbedingt will, der kommt auch rein. Ob mit oder ohne Schloss.«

Hanno wog eine rostvernarbte Eisenkette in den Händen, die ihm nützlich erschien, wenn er auch gerade nicht wusste, wofür.