»Wird dir nicht viel geklaut?«
»Die Zahnräder einer Uhr kann man nicht essen. Du musst sie erst verkaufen. An jemanden, der etwas mit dem Metall anzufangen weiß, und das ist den meisten schon zu viel Mühe. Wer trotzdem findig genug dafür ist, hat sich den Lohn redlich verdient.«
Sicher flößten auch Pawels unübersehbare Körperkraft und die eisigen Augen genug Respekt ein, dass niemand so leicht auf die Idee kam, sich in dieser Schatzhöhle zu bedienen oder mutwillig die Werkstatt zu verwüsten. Gerüche aus Dutzenden von Häusern, Hunderten von Leben sammelten sich in dieser vollgestellten Rumpelkammer, für Betje eine eigentümliche Mischung zwischen behaglich und unangenehm. Als würde sie ungefragt ihre Nase in anderer Leute Glück und Unglück stecken. In all die kleinen und großen Momente, die sie sonst für sich behielten, im Schutz ihrer vier Wände.
Betje machte einen Schritt zur Seite, um Pawel mit einem Stapel alter Hüte in den Händen vorbeizulassen. Ihr Fuß stieß gegen einen Korb, und die blank gebürsteten Knochen darin schlugen klappernd aneinander.
Pawel fing ihren erschrockenen Blick auf. »Daraus kann man Messergriffe schnitzen. Spielzeug, kleine Schmuckstücke oder Knöpfe. Und aus dem Mark lässt sich Seife kochen.«
Für Pawel schien nichts jemals völlig nutzlos zu sein. Nichts zu schäbig, zu schmutzig oder zu verrottet, um nicht doch noch irgendeinen Wert zu haben, sich am Ende vielleicht sogar in etwas Schönes zu verwandeln.
Die Stube hinter der Werkstatt war winzig, mit nur einem schmalen Bett darin. Betje fragte sich bang, wie sie zu dritt hier schlafen sollten. Was dieser fremde Mann dafür verlangen würde, dass er sie beherbergte, und die Erinnerung an Joost füllte ihren Mund mit einem sauren Geschmack.
Halt suchend umklammerte sie ihren Arm und drückte sich in eine Ecke, während Pawel Jacke und Mütze ablegte und sich an einer Schüssel Gesicht und Hände wusch. Hanno raufte lachend mit Pies, bevor er auf Pawels knappe Anweisungen hin Feuer machte, einen Hocker aus der Werkstatt an den Tisch holte und Zwiebeln schnitt.
Wie um abzuschätzen, wozu sie von Nutzen sein konnte, wandte Pawel sich von der Pfanne ab, in der es verlockend zischte und brutzelte, und musterte Betje mit seinen kalten Augen.
»Geschirr steht dort drüben«, sagte er schließlich und widmete sich wieder der Mahlzeit auf dem Herd.
Sorgsam mit den Tellern zu hantieren, lenkte Betje für den Augenblick ab. Genau wie das Tischgebet, das Pawel mit geschlossenen Augen in seine gefalteten Hände murmelte, in einer fremden Sprache, die wie ein Bach durch ein steiniges Bett sprudelte. Dann füllte er zuerst eine Schüssel für Pies, bevor er reihum auf die Teller schöpfte.
Betje versank geradezu in den gebratenen Kartoffeln mit Speck und Zwiebeln, herrlich fettig und salzig, während Hanno umso hartnäckiger Pawel mit Fragen nach dem Leben in Hamburg bestürmte, je einsilbiger dieser antwortete.
Erst danach kehrte das angstvolle Dröhnen in Betjes Kopf zurück. Im Dunkel der Nacht, auf dem Strohsack neben Hanno, in der Ecke zwischen Tisch und Tür.
Für ein oder zwei Nächte konnten sie bleiben, nicht länger, das hatte Pawel unmissverständlich klargestellt, als er ihnen das Bettzeug brachte. Betje wusste nicht, ob sie es so lange hier aushalten würde, ein geduldeter Eindringling in der Klause eines Einsiedlers. Womöglich als leichte Beute eines Ungeheuers.
Draußen pladderte und gurgelte der Regen und spülte die unvertrauten Geräusche einer großen Stadt heran. Betje sträubte sich dagegen, sich von der wohligen Wärme der Decke einlullen zu lassen. Von der satten Schwere in ihrem Bauch und dem gemütlichen Schnaufen des Hundes, der sich unter dem Tisch zusammengerollt hatte. Angestrengt lauschte sie in die Finsternis, ob Pawel wirklich tief und fest schlief oder nur so tat.
Sie fuhr zusammen, als Hanno nach ihr tastete.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, flüsterte er. »Ich lass nicht zu, dass dir was geschieht.«
Betje nahm ihren ganzen Mut zusammen. Wie der taumelnde und unsichere Sprung über einen Wassergraben fühlte es sich an, als sich ihre Hand in Hannos stahl.
»Niemals?«, wisperte sie, beschämt über ihre gierige Bedürftigkeit.
Einen entsetzlichen Augenblick lang fürchtete sie, er würde sie abschütteln wie eine lästige Fliege, angeekelt von ihr abrücken oder nach ihr schlagen. Dann schloss sich Hannos heiße Jungenhand fest um ihre klammen Mädchenfinger.
»Niemals, Betje.«
7
An Deck zu stehen, das Gesicht im Wind, hatte für Katya nichts an Faszination verloren. Über die Wellen zu reiten, auf einem Schiff, das in der Weite des Ozeans zu einer Nussschale schrumpfte, so ausladend, so wuchtig es im Hafen auch gewirkt hatte. Nie schien das Wasser eine Grenze zu kennen, nie ein Ufer, und doch trug es einen an ferne Küsten, unter einen anderen Himmel. Wäre sie als Junge zur Welt gekommen, wäre Katya genauso zur See gefahren wie ihr Bruder Grischa. Dass sie auch als Frau Tausende von Meilen auf den Meeren zurückgelegt hatte, bewies, dass es immer einen Weg gab, war der Wille nur stark genug.
Diese Fahrt in den Norden hinauf war jedoch eine besondere, sogar für Katya. Keine Flucht, wie sie sich selbst fortwährend versicherte. Auch keine Nostalgie, dafür war sie mit zweiundzwanzig Jahren zu jung.
Katya sehnte sich danach, die Hand wieder zum Polarkreis auszustrecken, nach der Klarheit der Tage und nach den scharfen Böen, die Nebel auflösten und Wolken vertrieben. Nach schweigenden Nächten, in denen die Sterne zum Greifen nahe rückten. Hoch im Norden, so hoffte Katya, würde ihre trudelnde Kompassnadel zur Ruhe kommen.
Jede Stunde an der Reling kostete sie aus. Auge in Auge mit der Küste, die von der Zeit und den Elementen gezeichnet war wie ein altgedienter Krieger. Eine baldige Rückkehr hatte sie den schneebedeckten Gipfeln und Graten im Norden Norwegens versprochen. Den Fjorden, deren Eis der Frühling gerade sprengte und schmolz. Sieben Jahre waren seitdem vergangen, doch dieses Land konnte genauso geduldig sein wie Katya.
Der Frachter mit Tuch und Getreide aus Hamburg fädelte sich in ruhigere Wasserwege ein. Zwischen Inseln hindurch, die von Wind und Wetter abgehärtet waren, halb noch im eisigen Griff des Winters, halb schon in zartes Grün getaucht und von den ersten Wildblumen getupft. Katyas Herz schlug schneller, als die Schiffe in Sicht kamen, die sich am Ufer des Sunds tummelten. Der Kirchturm, der die Holzhäuschen in Rot, Weiß und Braun um sich versammelte.
Ihr Gepäck fest in der Hand, ging sie mit langen Schritten die Mole von Tromsø entlang. Ungleich sicherer und zielstrebiger als damals an der Hand ihres Bruders, ein kleines Mädchen mit kurz geschorenen Haaren, barfuß und in Jungenkleidern, schmutzig und ausgehungert. Ausgesetzt an dieser fremden Küste, zur Strafe für ihren Ungehorsam. Nicht ahnend, dass sie hier zum ersten Mal ein Zuhause finden würde, das diesen Namen verdiente.
Geschäftig ging es im Hafen zu. Fässer wurden an Katya vorbeigerollt, Kisten und Säcke herangekarrt und auf die an ihren Leinen zerrenden Schiffe verladen. Die Walfänger machten sich zum Auslaufen bereit; den Sommer würden sie mit ihrer blutigen Jagd verbringen und im Herbst mit reicher Fracht aus den Meeren des Nordens heimkehren. Wie Grischa früher. Seine Heuer und der Erlös seiner kleinen Geschäfte mit grönländischen Pelzen, dazu das Geld, das Katya mit dem Schrubben von Böden im Gästehaus verdient hatte, waren der Grundstock all dessen gewesen, was sie seither erreicht hatten.
Wachsame Blicke streiften sie, fragend und abschätzend, manch ein Seemann starrte sie gar unverhohlen an, sein Gesicht von Wind und Sonne und Salz gebeizt. Fremde weckten Neugierde. Besonders eine Frau wie Katya, hochgewachsen und schlank wie eine Fichte.
Eisjungfer , schwirrte es von irgendwoher und pflanzte sich über die Mole fort.
Katya lächelte in sich hinein. So hatten sie sie hier im Hafen gerufen. Das Mädchen mit den Augen wie der Winterhimmel und die Polarlichter, das bei jedem schelmischen Zwinkern, jeder Neckerei kühl blieb, weil es nichts als Eis und Schnee im Sinn hatte.