Ihrer norwegischen Mädchentracht war sie längst entwachsen und auch keine Jungfer mehr. Sie trug die ersten Schrammen unglücklicher Liebe und zerbrochenen Vertrauens auf dem Herzen und einen kleinen dunklen Fleck, wo sie selbst untreu geworden war, unter dem Sternenhimmel einer Tropennacht.
Der Wind blähte ihre Röcke und trieb sie eilig vorwärts, plötzlich voller Ungeduld. Wie von selbst schlugen ihre Füße den Weg ein, den all ihre Briefe in den letzten sieben Jahren genommen hatten.
Das Gästehaus strahlte unter einer Schicht neuer Farbe, die Fensterscheiben blitzten im Sonnenlicht, auf der gespannten Leine flatterten frisch gewaschene Leintücher. Ein Junge kauerte darunter, ganz darin vertieft, Holzschiffchen durch das Meer aus Grashalmen zu steuern.
Sein ungebärdiges Haar war ungewöhnlich dunkel für diesen Landstrich. Das noch kindlich weiche Gesicht ließ schon die kräftigen Züge erahnen, die sich in nur ein paar Jahren herausprägen würden. Ein biegsamer Schössling, der es kaum abwarten konnte, sich zu einem mächtigen Baum zu strecken.
Die konzentrierte Miene, mit der dieser Junge sich seinem Spiel widmete, war Katya auf merkwürdige Weise zutiefst vertraut. Ihre Schritte gerieten aus dem Takt.
Mit einem Mal war sie wieder ein kleines Mädchen in Russland und rannte auf kurzen Beinen Grischa hinterher. Ihrem großen Bruder, der alles konnte, alles wusste und wie Wind und Regen war. Der den viel größeren, viel stärkeren Brüdern in den Arm fiel, wenn sie Katya schlugen, und sie nachts auf dem Strohsack beschützend an sich drückte, sie wärmte, wenn sie fror.
Ihren Bruder in diesem Jungen wiederzuerkennen ließ sie das besondere Band zu Grischa spüren, am Tag von Katyas Geburt geknüpft, als ihrer beider Mutter starb. Eine Nabelschnur zwischen Bruder und Schwester, die noch immer so stark, so lebendig war, dass es ihr für einen Augenblick den Atem nahm.
Als der Junge den Kopf hob und sie mit seinen hellen nordischen Augen ansah, schmal und schräggestellt wie die eines Fuchses, wusste Katya, wessen Kind er war, noch bevor er nach seiner Mutter rief.
Silja Guðmundsdóttir erschien in der Tür und blieb wie eingefroren stehen.
Das flächige Gesicht mit den breiten Wangenknochen war weicher geworden, voller. Feine Linien zeichneten sich mittlerweile unter ihren blauen Fuchsaugen ab, Mitte vierzig musste sie jetzt sein. Falls sich das erste Grau in ihr Haar eingeschlichen hatte, ging es völlig im Silberblond ihres Flechtkranzes auf.
Eine feine Röte kroch über ihr Gesicht, während sie einige Herzschläge lang schwieg, vielleicht vorwurfsvoll, vielleicht schuldbewusst.
»Du kommst früh«, stellte sie schmallippig fest.
»Wir hatten guten Wind«, erwiderte Katya, die dänische Mundart fremd und heimisch zugleich.
Silja wischte sich die Hände an der Schürze über ihrer Witwentracht ab.
»Sag Katya Guten Tag, Magnus.«
»Guten Tag«, echote die Jungenstimme mit freundlicher Gleichgültigkeit, an Gäste gewohnt, die beständig kamen und wieder gingen.
Eine befangene Stille entspann sich, beschwert von unausgesprochenen Fragen, verweigerten Antworten. Dann ging ein Ruck durch Silja, und sie schloss Katya in die Arme. Hüllte sie ein in ihren Duft nach Wacholder und sahniger Butter, nach Kaffee und noch warmem Zuckergebäck. Die einzige Mutter, die Katya je gekannt hatte.
Erst am Abend kehrte im Haus Ruhe ein, nachdem die Gäste verköstigt worden waren und sich in ihre Zimmer zurückzogen oder noch auf ein Bier ausgingen. Line, die in der Küche mithalf, hatte die letzten Teller gespült und warf sich ihr Schultertuch über, um sich auf den Weg zu ihrem Witwenhäuschen zu machen. Und Jorunn, ein Mädchen wie eine Sprotte, aber tüchtig mit Wäschekorb und Schrubber, stieg zu der Kammer unter dem Dach hinauf, die früher einmal Katyas Reich gewesen war.
Das Feuer im Kamin prasselte behaglich, so früh im Jahr waren die Nächte noch kalt. Im Lampenlicht flickte Silja eine von Magnus’ Hosen, während Katya sich den ausgefransten Saum eines Tischtuchs vornahm. Die Maschen zwischen den beiden Frauen, die sich trotz all der Briefe gelockert hatten, hatten sie den Tag über zusammengezogen, das eine oder andere Löchlein aus sieben langen Jahren gestopft. Jetzt war es Zeit, die losen Fäden aufzugreifen.
»Du hast nie von ihm geschrieben.«
In Katyas Stimme lag kein Vorwurf. Nur ein zärtliches Staunen über diesen Jungen, der mit Zahnlückengrinsen und leuchtenden Augen immer noch mehr über die Elefanten und Tiger Indiens hatte wissen wollen und über die Schiffe, mit denen Katya über die Meere gesegelt war. Mehrmals hatten sie ihm versprechen müssen, dass Katya morgen auch noch da sein würde, dann erst konnte Silja ihn dazu bewegen, schlafen zu gehen, lange nach seiner gewohnten Bettzeit.
»Du hattest genug eigene Sorgen«, erwiderte Silja sanft.
Als Katya vor sieben Jahren oben in der Kammer ihre Segeltuchtasche gepackt hatte, den Blick nach vorn gerichtet, in ihr neues Leben, war dieser Junge bereits in Siljas Bauch geschwommen, gut versteckt unter weiten Röcken. Während Katya in Hamburg Fuß fasste und sich die Finger wund nähte, um mit Grischa und den Brüdern Petersen ihren Traum von einem Handel mit Eis wahr werden zu lassen, reifte der Sohn ihres Bruders in Silja heran und beschwerte deren Schritte. Und um jene Zeit herum, als Katya mit den Scherben einer ersten scheuen Liebe dasaß, weil Christian Petersen eine andere geheiratet hatte, hatte sich hier in Tromsø Magnus auf den Weg in die Welt gemacht. Genährt und umsorgt von seiner Mutter, die so lange schon verwitwet war.
»Das war sicher nicht leicht für dich«, sagte Katya leise.
Die vertrauliche Anrede hatte sich ganz selbstverständlich eingeschlichen, von einer erwachsenen Frau zur anderen. Sicher lag es auch an Magnus, dass eine neue Nähe zwischen ihnen entstanden war.
Stich um Stich schob Silja die Nadel durch den festen Stoff, zog das Garn nach.
Für viele in Tromsø war ihr wachsender Bauch der Beweis dafür gewesen, dass die Händler, die bei Silja Guðmundsdóttir abstiegen, zu einem Bett, frischer Wäsche und warmen Mahlzeiten noch andere Dienstleistungen erwarten konnten. Wie man es bei der Isländerin immer schon vermutet hatte. Warum sonst sollte das Gästehaus von den ersten Frühlingstagen bis spät im Herbst immer voll sein, sogar im Winter war stets das eine oder andere Zimmer für ein paar Tage vermietet. Eine noch junge Witwe, die gegen Geld fremde Männer beherbergte, konnte nichts anderes sein als ein liederliches Frauenzimmer.
Silja hatte das Kinn umso höher gereckt, wenn sie durch die Stadt ging, hatte sonntags umso aufrechter in der Kirchenbank gesessen. Sie hatte nichts zu verbergen, nichts zu entschuldigen. Solange die Händler und Jäger und Durchreisenden ihr Haus nicht mieden, war es ihr gleichgültig, was über sie geredet wurde.
Ihre Gäste, an Siljas Fürsorge zu einem guten Preis gewöhnt, waren weiterhin gekommen. So verlässlich, dass es ihr Kopfzerbrechen bereitete, wie sie sich zwischen Wehen und Wochenbett um sie kümmern sollte. Später mit einem Neugeborenen, das ständig nach Milch und einer frischen Windel schrie oder einfach nur danach, im Arm gehalten zu werden.
»Oddveig war mir eine große Stütze.«
»Oddveig Halvorsdotter?«
Katya hatte im Haus gerade Hut und Jacke abgelegt gehabt, noch nicht einmal an ihrem Kaffee genippt, als auch schon die Nachbarin an der Tür geklopft hatte, um sich Zucker zu borgen und dabei eingehend zu begutachten, was aus der kleinen Russin geworden war, die früher hier Fenster geputzt und Betten gemacht hatte.
»Manchmal gehen Neugierde und Hilfsbereitschaft Hand in Hand«, sagte Silja.
Wissend lächelten sie einander zu.
»Warum hast du es Grischa nie gesagt?«
Silja runzelte die Stirn und zupfte an dem Faden, der nicht geschmeidig durch den Stoff gleiten wollte.
»Um ihm die Ketten von Frau und Kind anzulegen? Einem halben Jungen noch, hungrig auf das Leben und die weite Welt? Dabei wäre wohl kaum etwas Gutes herausgekommen.«