Выбрать главу

Dieses Jahr würde Grischa allein durch die Basare streifen, in der Hand die Listen und Stoffmuster, auf die sie alle vier sich anhand der Zahlen aus dem Vorjahr verständigt hatten. Und dieses eine Mal wollte Katya auch gar nicht an seiner Seite sein.

In diesem Jahr gab es für sie nichts Wichtigeres, als beim Wäschewaschen und Bettenmachen Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Teig zu kneten und das frische Brot aus dem Ofen zu holen nährte ihre Seele mehr als die schwindelerregenden Summen, mit denen sie in Hamburg jonglierten. Mit Silja eine Bluse aus der feinen Baumwolle zu schneidern, die sie neben den Säckchen Pfeffer, Zimt und Nelken aus Indien mitgebracht hatte, das gab ihr das innere Gleichgewicht zurück; nachdem genug Stoff übrig war, würde es noch ein Sonntagshemd für Magnus geben.

Der geruhsame Trott, dem das Leben in Tromsø bei aller Geschäftigkeit folgte, ließ Katya aufatmen, nach zwei Jahren fieberhafter Unrast, dem Wind und dem Wetter einen Schritt voraus zu bleiben. In Hamburg waren sie immer in Eile, die neue Ware so schnell wie möglich an den Mann zu bringen, weil jeder Tag der Lagerung bares Geld verschlang. Und sobald Umsatz gemacht war, floss dieser sofort wieder in Löhne und Heuer, in Charter und Mieten und Steuern. In die nächsten Fahrten zum Voroninvatnet, nach London und nach Madras. Auch Investitionen wie neues Gerät und das Mobiliar für das Kontor, über das sie leidenschaftlich gestritten hatten, waren notwendig. Und nicht zuletzt sparten sie auf ein eigenes Schiff.

Das Geschäft glich einem reißenden Fluss voller Unterströmungen und Strudel, der ab und zu im Boden versickerte, um an anderer Stelle unerwartet wieder an die Oberfläche zu drängen. Trotz allem blieb genug Geld übrig, um ihnen ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

Während der Schnee auf den Bergen rund um Tromsø schmolz, kam Katya allmählich zur Ruhe. In der schroffen Beständigkeit von Land und Fels, das Wasser des Sunds ein tiefer Spiegel, der dem Himmel Unendlichkeit verlieh. Die Pfade, die sie damals mit Johann Silberberg gegangen war, als er ihr Namen für die verschiedenen Formen des Eises schenkte, ihrem Gespür einen wissenschaftlichen Rahmen zimmerte, waren ihr noch immer vertraut. Jetzt bahnte sie sich auch neue Pfade über die frühlingsjungen Wiesen und durch den Birkenwald.

Nur die Antworten, die sie suchte, hatte sie noch immer nicht gefunden.

Es gab andere Fragen, andere Antworten.

»Hast du in Russland auch am Meer gelebt?«, fragte Magnus in den Wind, der schon die Wärme des Sommers in sich trug. Noch ganz im Bann seiner Fahrt in Olaf Thorssons Fischerkahn vor ein paar Tagen, schien der Sund für seine hellen Jungenaugen mit einem Mal zu eng, zu begrenzt.

»An einem See«, erwiderte Katya, die sich auf einem Stein niedergelassen hatte. »So groß und weit, dass man nicht bis ans andere Ende sah, wenn man am Ufer stand. Die Leute sagten sogar, er sei so groß wie ein Meer. Trotzdem ist er jeden Winter zugefroren. Einmal habe ich mich nachts hinausgeschlichen, um das Eis singen zu hören.«

»Eis, das singt?« Magnus’ Miene verriet seine Skepsis.

Katya nickte. »Der schönste Klang der Welt.«

Ein Lächeln glitt über Magnus’ Gesicht, bevor er weiter gedankenvoll mit einem Ast in der feuchten Erde stocherte.

Er hörte gern davon, wie es gewesen war, mit dem Vater und den Brüdern auf dem kleinen Gehöft. Was sie alles gehabt und nicht gehabt hatten, auf dem Land des Grundherrn. Dort, wo sich die Ränder des Zarenreichs in den finnischen Wäldern verloren, sich seit Menschengedenken Völker, Sitten und Sprachen durchmengt hatten. Eine Mischung, die Katya ins Gesicht geschrieben stand und noch immer ihre Stimme dunkel färbte, ob im Deutschen, Dänischen oder Englischen.

»Bist du dort gern zur Schule gegangen?«, wollte Magnus wissen.

»Bei uns gab es keine Schule.«

»Keine Schule?«

Magnus sperrte Mund und Augen auf, halb entsetzt, halb neidvoll. Er lernte gierig und schnell, doch still zu sitzen verlangte ihm Willenskraft ab. Am liebsten war er draußen, sprang mit anderen Jungen über die Wiesen wie eine Schar junger Ziegen, blieb für sich allein oder zeigte Katya seine Lieblingsplätze und erzählte ihr von den Fundstücken, die er dort gemacht hatte.

»Lesen und schreiben habe ich erst hier gelernt, bei deiner Mutter. Da war ich schon fast doppelt so alt wie du.«

Magnus’ Gesicht zog sich grüblerisch zusammen, als müsste er diesen Einblick in ein Kinderleben, so grundlegend anders als sein eigenes, erst einmal verdauen.

Ein seltsamer Gedanke, dass sie nicht viel älter gewesen war, als sie sich in jener Frühlingsnacht an Grischas Fersen geheftet hatte. Ein Halbwüchsiger und ein Kind, die zu Fuß durch das weite Land gewandert waren, mit kaum mehr als dem, was sie am Leib trugen.

Es hatte nicht viel Mut erfordert, dem Gehöft des Vaters den Rücken zu kehren und ins Unbekannte aufzubrechen. Eine Notwendigkeit war es gewesen, um nicht ohne Grischa zurückzubleiben. Ihr Schutzwall. Ihr Leitstern, der ihr immer ein paar Schritte voraus war.

Wenn sie Magnus davon erzählte, wie sie damals auf ihrer Wanderung einer Bärenmutter mit ihren beiden Jungen begegnet waren, im Schilf, und wie ein gutherziger Mann sie bei strömendem Regen in seinem Karren mitgenommen hatte in sein Gasthaus in Sankt Petersburg, kam es ihr manchmal selbst wie ein Märchen vor. Aber vielleicht war die Kindheit immer ein Märchen, mal idyllisch, mal grausam und voller Gefahren. Bis einen die nüchterne Wirklichkeit des Erwachsenenlebens einholte.

Je länger Magnus schwieg und Rinnen in die Erde grub, umso deutlicher war ihm anzusehen, dass er etwas auf dem Herzen hatte.

»Mein Papa«, kam es schließlich zögerlich von ihm. »Ist der ein netter Mann?«

So mäßig interessiert er den Brocken geschluckt hatte, dass Katya die Schwester seines russischen Vaters war, den er noch nie gesehen und nach dem er kaum je gefragt hatte, so sehr schien es jetzt in ihm zu gären.

»Grischa«, begann Katya behutsam, »ist groß und stark. Das war er immer schon, schon als Junge. Und genauso groß und stark ist sein Herz. Es ist leicht, mit ihm gut Freund zu sein. Wen er in dieses große Herz geschlossen hat, den wird er immer beschützen, um jeden Preis. Großzügig ist er, mit allem. So sehr, dass er sogar das aufgeben würde, was ihm das Liebste auf der ganzen Welt ist, wenn davon das Glück eines anderen abhängt.«

Katya hörte selbst, dass ihre Stimme dabei dünn klang, wie durchgescheuert.

Sie hegte keinen Groll gegen Grischa. Er hatte sich allein von seinen Gefühlen, seiner Leidenschaft leiten lassen, in jener Nacht in Madras. In den Nächten, die es danach vielleicht noch an Bord gegeben hatte. Da hatte Katya schon nicht mehr darauf geachtet, war sie längst ihrer eigenen versponnenen Träumerei zum Opfer gefallen, einer nostalgischen Schwäche.

Wenn ein Menschenherz begehrte, wurde es blind und taub für richtig oder falsch. Für das, was es mit seinem Begehren anrichtete.

Katya beobachtete die geblähten Segel eines Schiffs, das durch den Sund kreuzte. Nahezu unmöglich kam es ihr vor, Grischas Wesen in Worten einzufangen. Ihr dickköpfiger, unbezähmbarer Bruder, für den das Gefühl absoluter Freiheit die Luft zum Atmen war und für den selbst ein ganzer Ozean zu klein schien.

»Grischa ist wie die Vögel dort draußen, weißt du.«

Magnus folgte ihrem Blick zu einem der Sturmtaucher. In akrobatischem Seitwärtsflug schnitt seine wie von Ruß gefärbte Schwinge durch das Wasser, bevor er wieder in die Höhe schoss, kraftvoll und unbeirrbar wie ein gefiederter Pfeil.