Voller Staunen hatte Katya sich von Magnus erzählen lassen, was er alles über diese Vögel wusste. Wie sie sich unerschrocken in die Fluten stürzten, um sich aus der Tiefe den besten Fisch zu holen. Selten schlossen sie sich mit ihresgleichen zusammen, und wenn, dann nur auf Zeit. Jeder zog allein für sich seine Bahnen über die ganze weite Welt, nirgendwo wirklich zu Hause.
Ein Leuchten glitt über Magnus’ Gesicht, als er verstand und schließlich nickte, auf eine Art weise, wie es nur Kinder waren.
»So hat Mama es mir auch erzählt. Dass er dort draußen irgendwo ist, auf den Meeren. Und dass er eines Tages kommt und mich besucht.«
Eine Entschlossenheit, die an Grischa erinnerte, zeichnete sich um seinen Mund ab, doch das spitzbübische Glimmen in seinen Augen war ganz und gar Magnus.
»Aber sobald ich groß genug bin, fahre ich selber zu ihm hinaus aufs Meer. Mama weiß das nur noch nicht.«
Was immer ihm noch so alles durch den Kopf gehen mochte, behielt er für sich, während er sich hinhockte und mit andächtiger Miene Steinchen aus dem Boden pulte, sie an seinen Hosenbeinen säuberte und sorgfältig untersuchte. Aus der Tasche ihres Rocks holte Katya den Brief, den sie seit zwei Tagen bei sich trug. Nicht, um ihn noch einmal zu lesen; sie hielt ihn nur gern in der Hand.
»Katya!«, rief Magnus nach einer Weile aufgeregt. »Schau doch!«
Katya betrachtete den behauenen Steinsplitter, den Magnus ihr hinhielt, und lauschte seinen hervorsprudelnden Ausführungen über Pfeile und Speerspitzen. Über Wikinger und Hirtenstämme, die der Überlieferung nach schon vor Tausenden von Jahren die Insel bevölkert hatten.
Beide blickten auf, als Silja das Ufer entlang auf sie zukam, das Schultertuch fest um sich geschlungen. Der Himmel hatte sich zum Abend hin zugezogen und brachte einen böigen Wind mit sich; Katya und Magnus hatten alles um sich herum vergessen.
Freudestrahlend lief Magnus zu seiner Mutter, die seinen Fund gebührend bewunderte und ihm über den Kopf strich, bevor der Junge auf der Suche nach weiteren Schätzen davonstob.
»Jetzt wird er wohl nicht eher Ruhe geben, bis er die ganze Insel umgegraben hat.« Silja seufzte, als sie zu Katya trat.
Das Gesicht angespannt, beobachtete sie einige Zeit die Seevögel und die Wolken. Wie um zu sehen, woher der Wind wehte.
»Wirst du es Grischa sagen?«, fragte sie schließlich.
»Es ist nicht an mir, ihm das zu erzählen.«
Silja nickte.
Eine Weile schwiegen sie in der Stille über dem Sund. Schließlich deutete Silja auf den Brief, den Katya geistesabwesend zwischen den Fingern drehte.
»Aus Hamburg?«
»Von Thilo. Die Anfragen für unser Eis haben sich fast verdoppelt. Er schlägt vor, im kommenden Winter einen weiteren See mit gutem Eis ausfindig zu machen.«
Keine unwichtige Nachricht, aber auch keine, die nicht bis zu ihrer Rückkehr hätte warten können.
»Er schreibt auch, dass er mich vermisst.«
Sie hatten vereinbart, nichts voneinander hören zu lassen, bis Katya sich entschieden hätte. Dass Thilo sich darüber hinweggesetzt hatte, weckte gemischte Gefühle in ihr.
»Und du, vermisst du ihn auch?«, fragte Silja leise.
Hünenhaft groß und von jenem hellen Blond, das fast weiß war, schien Thilo einer nordischen Sage entsprungen. Wie ein Sohn des ewigen Winters wirkte er, mit seinen eisgrauen Augen, Wimpern und Brauen wie Raureif. Genauso kühl und klar arbeitete sein Verstand, mit dem er die Firma auf ein solides Fundament aus Kalkulationen und Bilanzen und Verträgen gestellt hatte, aus Frachtpapieren und Zollerklärungen. Dahinter verbargen sich jedoch ein gutes Herz und eine empfindsame Seele.
»Sehr.«
Katya vermisste den täglichen gemeinsamen Fußmarsch über die Brooksbrücke zum Lagerhaus und wieder zurück. Die Spazierrunden, die sie oft auf dem Grasbrook drehten, am Ende eines langen Tages im Kontor oder sonntags. Die unerschütterliche Ruhe Thilos, die sich wie eine warme Decke um sie legte. So anders als die lebhafte Energie Christians, die auf ihrer Haut kribbelte und die Welt bunter machte, ihr aber durch die Finger geronnen war wie Wasser.
Sie vermisste es, Thilo beim Essen gegenüberzusitzen und die Abende mit ihm in der Stube zu verbringen, bei Tee oder der Flasche guten Weins, die sie sich ab und zu gönnten. Eine behagliche und geradezu intime Zweisamkeit, in der sie sich gegenseitig Abbitte geleistet hatten. Zu ergründen versuchten, was in sie gefahren war, in jener Nacht in Madras. Zu erforschen, was sie wirklich fühlten, was sie sich erhofften, was am meisten ersehnten.
Ein Heim, das mehr war als nur ein Zuhause, darauf kamen sie am Ende immer zu sprechen. Erfüllt von Kinderlachen und den klebrigen Abdrücken kleiner Hände sollte es sein. Das war der Traum, den sie teilten und sich gegenseitig ausmalten. Die glückliche Familie, die Katya nie gehabt hatte. Die Thilo so früh durch Napoleons Soldaten genommen worden war.
Katyas Blick blieb an Magnus hängen, der selbstvergessen in der Erde wühlte, Steinchen und Wurzelstücke heraussortierte und immer wieder behutsam einen Käfer oder einen Wurm in Sicherheit brachte.
Sie hatte Christians und Hennys Tochter Jette aufwachsen sehen, aus einem Wonneproppen zu einem flatternden kleinen Schmetterling geschlüpft. Katya war ein gern gesehener Gast bei den Kaffeekränzchen in der Puppenstube und bekam jedes Mal eine herzabdrückende Umarmung und einen schmatzenden Kleinmädchenkuss, wenn sie wieder aus einem Rest indischen Stoffs ein Kleid für Jette und ein Zwillingsstück für die Lieblingspuppe gezaubert hatte.
Doch erst seit dem vergangenen Jahr wusste Katya, wie es wirklich war, für ein Kind zu sorgen. Es zu füttern und zu baden und die Nacht hindurch ein brüllendes Bündel umherzutragen, ein paar Stunden friedlichen Schlafs, ein kleines Lächeln und zufriedenes Gurgeln und Strampeln der schönste Lohn. Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, damit dieses winzige Leben in der Welt blieb und gedieh, hatte sie irgendwann vergessen lassen, dass es nicht ihr eigenes Kind war.
Als sie die kleine Marie wieder in die Arme ihrer leiblichen Mutter zurücklegen musste, hatte es sich angefühlt, als würde sie sich selbst ein Stück Fleisch herausreißen. Eine Wunde, an die sie Magnus, dieser junge Ableger ihrer eigenen Wurzeln, jeden Tag auf schmerzlich schöne Weise erinnerte.
»Ich wünsche mir so sehr ein Kind. Am liebsten gleich ein ganzes Haus voll.«
»Du bist noch jung. Dafür ist reichlich Zeit.«
Katyas Blick schweifte über das Wasser, das mal regungslos auszuharren schien, dann wieder umso eiliger vorüberfloss.
»Es ist ein seltsames Ding, diese Zeit. Als Kind in Russland empfand ich jeden Winter als eine Ewigkeit, sogar die kurzen Sommer. Die fünf Jahre in Hamburg, in denen wir versuchten, unseren Handel auf die Beine zu stellen, aber einfach nicht vom Fleck kamen, schienen genauso endlos. Gleichzeitig schnurrte jedoch die Zeit, die uns noch blieb, um das Darlehen zurückzuzahlen, umso schneller zusammen. Die letzten zwei Jahre schließlich, als der Erfolg geradezu über Nacht kam, sind nur so vorübergeflogen.«
Vielleicht lag es an Hamburg selbst, dass die Zeit dort schneller verging. In dieser Stadt, die so viel größer schien, als sie tatsächlich war. Der Takt, in dem man Waren verlud, war ihr Herzschlag, das Wechselspiel von Ebbe und Flut in den Fleeten ihr Atem.
»Ich habe so lange immer nur gewartet, weißt du. Darauf, dass ich meine Träume benennen und greifen kann. Dass irgendetwas geschieht.«
In Russland war es Grischa gewesen, der nach einem anderen, einem besseren Leben gehungert und Pläne geschmiedet hatte. Erst hier in Tromsø hatte Katya gelernt, selbst zu träumen. Und wie in einem der Märchen, die ihr Großvater früher erzählt hatte, schien jeder ihrer Wünsche, der in Erfüllung ging, weitere Wünsche nach sich zu ziehen.
»Du brauchst zwar einen Mann für ein Kind«, sagte Silja, »aber nicht unbedingt einen Ehemann. Schau mich an.«
Das Lächeln, das zwischen ihnen hin und her ging, hatte etwas Verschwörerisches.