Zwei Jahre zuvor hatte Katya noch genauso gedacht, in ihren norwegischen Nächten mit Johann Silberberg. Wo immer dieser jetzt sein mochte, sein letzter Brief aus Sibirien lag Monate zurück.
Damals hätte es niemanden am Kehrwieder groß gekümmert, hätte die Russin, die mit ihrem Bruder bei den Petersens oben zur Miete wohnte, ein uneheliches Kind gehabt. Solche Dinge kamen vor unter den einfachen Leuten auf dem Grasbrook.
Heute war das anders. Heute war sie keine kleine Näherin mehr, die abends im Wirtshaus an der Kibbeltwiete Gläser spülte und Tische abwischte. In den Kontoren Londons und bei den Sahibs von Madras war ein makelloser Ruf bare Münze wert, das witterte sie mit sicherem Instinkt, wenn sie als einzige Frau unter Männern am Besprechungstisch saß.
»Ist es falsch, alles haben zu wollen?«
Mit einem Seufzen ließ Silja sich neben ihr auf dem Stein nieder.
»Nicht, wenn du damit leben kannst, dass du am Ende vielleicht doch nicht alles bekommst.«
Es hatte einige Herren gegeben, denen das Fräulein Voronina gefiel, das so selbstverständlich bei den Verhandlungen im Kontor zugegen war, und zwar nicht, um den Kaffee zu servieren. Häufig waren danach Blumengebinde zugestellt worden, die eine oder andere Schachtel Konfekt, begleitet von schriftlichen Nettigkeiten, einmal sogar Opernkarten. Zu mehr als einer höflich-kühlen Antwort auf dem Briefpapier der Firma hatte Katya sich jedoch nie durchringen können. Zu oft war zuvor schon angeklungen, dass sie ja sicher nicht mehr im Unternehmen aushelfen müsse, sobald sie einmal unter der Haube war. Ein Bierhändler aus London hatte ihr gar mit nachsichtigem Lächeln das zweifelhafte Kompliment gemacht, dass eine solch bezaubernde junge Lady sich doch nicht in einem Lagerhaus zu verstecken bräuchte.
Thilo sah das anders. Für ihn war Katya das Herz der Firma und sollte es weiterhin sein, auch als Frau Petersen. Und trotzdem blieben Zweifel.
»Ich weiß nicht, ob das zwischen Thilo und mir für ein ganzes Leben reicht.«
Silja dachte an Reidar Ingvarsson, der sicher ein guter Mann gewesen war. Nur nicht der Mann, den sie als junge Frau gebraucht hätte. An Grischa dachte sie, alt genug, um ihr unter der Magie des Polarlichts eine Weiblichkeit zurückzugeben, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihr verloren gegangen war, aber zu jung für alles andere. Zu rastlos. Sie fragte sich, was gewesen wäre, wäre sie einem von ihnen zu einer anderen Zeit begegnet, unter anderen Umständen.
»Die Gewissheit, die du suchst, wird es wohl nie geben.«
Katya schwieg einige Herzschläge lang, während sich in ihr die Worte formten, nach denen sie so lange gesucht hatte.
»Als ich Thilo vor zwei Jahren versprach, seine Frau zu werden, habe ich es leichten Herzens getan. Jetzt fällt es mir nicht mehr so leicht. Seitdem habe ich bei Christian und Henny gesehen, wie unauflöslich eine Ehe sein kann, selbst wenn einer von beiden darin unglücklich ist. Ich habe begriffen, dass sogar eine große Liebe manchmal unrettbar verloren ist. Dass sich Risse auftun können, die nicht zu kitten sind. Weil das Leben eigene Wege geht.«
Silja sann über die vier jungen Menschen nach, von denen sie zwei nur aus Briefen kannte. Während sie in geschäftlichen Dingen offenbar so wirksam ineinandergriffen wie die Zahnräder eines Uhrwerks, schienen sie in ihren Gefühlen füreinander unheilvoll verstrickt.
Eine Geschichte ist nur halb erzählt, wenn einer allein davon spricht, versuchte sie, ihr ungutes Gefühl zu beschwichtigen.
»Was, wenn ich nie vergessen kann, dass er vor mir einmal Grischa geliebt hat?« Katyas Stimme schlich sich in ihre Gedanken.
Nach all den Gästen, die über die Jahre hier ein und aus gegangen waren, überraschte es Silja nicht mehr, dass es Männer gab, die Männer bevorzugten. Und Männer, die zwischen den Geschlechtern unentschlossen schienen. Grischa hätte sie keinem von beiden Lagern zugerechnet, und doch passte es zu ihm. Es musste die Art sein, mit der Grischa das Leben liebte, stürmisch und mit jeder Faser. Eine berauschende Naturgewalt, die für Männer bestimmt genauso unwiderstehlich war wie für Mädchen und Frauen.
Silja dachte an das Seehundfell, das Grischa ihr einmal aus Grönland mitgebracht hatte, schwarz glänzend wie eine Tintenpfütze und verführerisch seidig unter ihrer Hand. Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, es vom Kürschner zerschneiden und in eine neue Form bringen zu lassen, sie wollte es so bewahren, wie es war. Wie die Erinnerung an Grischa, die ihr jeden Tag aus Magnus’ Gesicht entgegenlachte.
»Musst du es denn vergessen? Dass er auch einmal Grischa geliebt hat?«, fragte sie.
Katya senkte den Kopf, blinzelte vor sich hin. »Vielleicht nicht, nein.«
Am Ende war es fast eine Erleichterung, dass jemand wie Thilo, der sonst felsenfest in sich ruhte, Schwächen und Leidenschaften kannte, nicht unfehlbar war. Grischa und Thilo, das war ein Teil ihrer gemeinsamen Geschichte, genauso wie Katya und Christian. Sie hatten einander hintergangen und dem anderen wehgetan, ihre Wunden und Fehler schonungslos offengelegt und sich verziehen. Was für böse Überraschungen könnte es da noch geben, in dem Leben, das vor ihnen lag?
Kein Mensch schmiedet sein Schicksal allein, hatte sie einmal in einer nordischen Saga gelesen.
Katya legte die Hände um den Brief, um ihn vor den ersten Regentropfen zu schützen. Rauchig wie Schnee roch der Regen und frisch wie junges Grün, in dieser Jahreszeit des Übergangs. Des Neuanfangs.
»Ich werde eine neue Tracht brauchen. Hilfst du mir, sie zu nähen?«
9
Grischa driftete aus tiefem Schlaf herauf, Kopf und Glieder schwer. Nicht von Wein, Bier oder Schnaps, sein Rausch war ein anderer gewesen. Lächelnd wanderte sein Blick über das nussdunkle Haar, die Rinne des Rückgrats hinab bis zu den Grübchen über den Pobacken.
Hart und kalt waren Ellis Augen gewesen, während sie sich zwischen den angetrunkenen Gästen des Wirtshauses bewegte. Erst als sie Grischa auf der Türschwelle entdeckte, ein Paket unter dem Arm, war ihr Blick weich geworden.
Elli fragte nie, wie lange er dieses Mal blieb, in wessen Armen er die übrigen Nächte verbrachte, und Grischa vergalt es ihr mit aller Zärtlichkeit und Leidenschaft. Über das vergangene Jahr war sie zu seinem Heimathafen geworden, wann immer er aus Norwegen, Indien oder England nach Hamburg zurückkehrte, für ein paar Tage oder einige Wochen.
In der Kammer nebenan kiekste Ellis Dreijähriger und klapperte mit dem neuen Blechspielzeug, leise ermahnt von seiner Großmutter. Grischa hatte anfangs gezögert, ihnen Geschenke zu machen, er wollte nicht missverstanden werden. Doch Elli und ihre Mutter schienen sich aufrichtig über Kattun und Musselin und Leinen zu freuen, die er ihnen mitbrachte, über Kaffee und Tee und Konfekt und die Sachen für den Kleinen.
Wenn er bei Elli war und mit Tristan spielte, bekam Grischa eine Vorstellung davon, wie es wäre, sesshaft zu sein, mit Frau und Kind. Er kostete gern ab und zu davon, doch auf Dauer ernährte es ihn nicht. Er war noch nicht so weit, auch mit sechsundzwanzig Jahren nicht.
Nach der kurzen Nacht war der Morgen viel zu früh gekommen, mit Hufschlägen und Räderknirschen, Möwenkreischen, Kirchenglocken und Rufen, die von unten durch das geöffnete Fenster schwappten. Der neue Tag war freundlich, aber kühl, roch harzig. Der Herbst kündigte sich an.
Grischa widerstand der Versuchung, sich noch einmal von Ellis Armen und Beinen umschlingen zu lassen, dünn wie die Ranken einer Kletterbohne. Sich in ihrem Duft nach Butterbrot und grünen Birnen zu verlieren. Behutsam breitete er das Leintuch über ihre nackte Haut und schob sich aus dem Bett. Die Kirchenglocken hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er spät dran war.
»Musst du schon gehen?«, murmelte Elli schläfrig.
Bereits in Hemd und Hosen, beugte Grischa sich über sie und küsste sie aufs Ohr, wo sie besonders kitzlig war. Ihre Nase kräuselte sich vergnügt.
»Meine Schwester heiratet doch heute.«