Obwohl sich nichts weiter damit anfangen ließ. Wenn man wusste, wie viele Kühe auf der Weide standen, besaß man deshalb nicht mehr Vieh. Und auch wenn man seine Münzen zählen konnte, waren trotzdem keine zweieinviertel Stüver für Rechenstunden übrig.
Betje zählte unverdrossen weiter. Solange sie zählte und rechnete, konnte sie alles andere vergessen. Zahlen waren immer ehrlich: Wenn sie fünf Küken zählte, dann waren da auch fünf Küken. Mit einer Gewissheit, die Betje half, zurechtzukommen in dieser sonst so unberechenbaren Welt voller Stolpersteine und Fallgruben.
»Hast du schon viel von der Welt gesehen?«, fragte sie Joost.
»Ein bisschen, hier und da.«
Er kniff ein Auge zusammen, lustig sah er dabei aus. Betje versuchte sich an einem Lächeln.
Joost wies mit einem Nicken auf die Wiesen hinaus. »Hast du dich noch nie gefragt, was dahinter liegt?«
Betje folgte seinem Blick über das Marschland, flach wie der Boden eines Suppentopfs, so weit das Auge reichte.
»Dahinter kommt irgendwo das Meer«, sagte sie mit einem leichten Zögern, einer Spur von Zweifel.
Niemand im Kirchspiel hatte es mit eigenen Augen gesehen. Hier blieb man auf der Scholle, auf der man geboren war, stur wie ein Ochse. Atmete die gleiche torfsaure Luft wie die Vorväter, den Geruch von saftiger Erde und nassem Gras und Heustaub, von Schweiß und Gülle. Bis der Boden, von dem man sich jahrein, jahraus ernährt hatte, einen zurückforderte.
Erst der raue Wind der letzten Jahre hatte einige aus dem Landstrich vertrieben, über das Meer hinweg. Auf der Suche nach dem Land, in dem Milch und Honig flossen.
»Und dann irgendwann Amerika«, fügte Betje hinzu.
Ihre Brust krampfte sich zusammen.
In Amerika hatte sie eine Mutter und einen Vater, Brüder und Schwestern. Betje erinnerte sich nur noch daran, dass sie einmal da gewesen und dann fortgegangen waren. An mehr nicht, so lange war das schon her.
Ein paarmal hatte sie die Tante gefragt, wann sie wiederkämen und warum sie Betje nicht mitgenommen hatten. Die Tante hatte geschwiegen, auf eine schwerfällig angestrengte Weise, und ihr jäh den Rücken zugekehrt; danach hatte Betje nicht mehr gefragt.
»Dort draußen gibt es noch viel, viel mehr zu entdecken«, erklärte Joost. »Hast du keine Lust, dir das einmal anzusehen?«
Betje vergrub die Zehen in der feuchten Erde.
»Bestimmt ist es überall genauso wie hier«, murmelte sie, ein beklommenes Ziehen im Bauch.
»Das kannst du doch nicht wissen, wenn du noch nie dort warst.«
Betje kauerte sich tiefer zusammen.
»Die ganze Welt wartet dort draußen auf dich, Betje. Und irgendwo gibt es da auch einen Platz für dich.«
Ein Ort, an dem sie keine boshaften Rufe fürchten musste. Keine Steine und alten Kartoffeln, die blaue Flecken hinterließen, und keine Hiebe. Wo sie einfach nur Betje sein konnte und sich dafür nicht zu schämen brauchte. Wie hier bei Joost. Das Sehnen danach, unerfüllbar und hoffnungslos, war so stark, dass ihr übel wurde.
Sie schüttelte den Kopf.
»Hast recht.« Joost nickte einsichtig. »Ich würd auch nicht mit einem Wildfremden mitgehen, der mir das Blaue vom Himmel verspricht. Du findest bestimmt deinen eigenen Weg, wenn du einmal groß bist.«
Bestürzt sah Betje zu, wie Joost sich die Kappe auf den Kopf stülpte und aufstand.
»Ich muss auch weiter. Mach’s gut, kleine Betje.«
Traurig klang er, und trotzdem schulterte er seine Kiepe und ging davon.
Der Himmel verdüsterte sich, und das Gras verlor seine Farbe, seinen Glanz. Als ob Joost den Sonnenschein mit sich genommen hätte.
Betjes Blick fiel auf das Päckchen, das die Erde salzte. Die Vorstellung, der Tante damit unter die Augen zu treten, ihre einzige Bluse voller Dreck und Kuhmist, drehte ihr den Magen um.
Die Tante würde ihr niemals glauben, wie die Viertelstüver weggekommen waren. Warum auch, Clas’ Vater hatte sich erst zwei prächtige neue Pferde angeschafft. Ein Schmied wie Gunnes Vater hatte immer sein Auskommen, und Eikes Vater saß auf fast hundert Demat üppigen Landes, mit dem meisten Vieh im ganzen Kirchspiel.
Betje dachte an den Widerwillen, den sie oft in den Augen der Tante sah. Ab heute wäre sie nicht mehr nur ein Krüppel. Ein Holzbock, der sich auf Kosten anderer durchfraß. Sondern auch eine Lügnerin und Diebin.
Betje wurde schlecht vor Angst.
Wackelig sprang sie auf die Füße. Ihren linken Arm fest an sich gedrückt, rannte sie über die Wiesen.
»Joost! Warte! Joost!«
Nur noch daumengroß war seine Gestalt in der Ferne zu sehen, Betje hatte zu lange gezögert. Umso lauter rief sie nach ihm und spurtete aus Leibeskräften über das Marschland. Es schien, als würde sie ihn niemals einholen, der aussichtlose Versuch, einen Regenbogen zu fangen.
Die Furcht, einen kostbaren und einzigartigen Moment verpasst zu haben, verlieh ihr Flügel, ihre Stimme schrill vor Verzweiflung.
»Joost!«
Endlich blieb er stehen und drehte sich um. Außer Atem und mit schmerzhaft hämmerndem Herzschlag schloss Betje stolpernd zu ihm auf.
»Kannst du mich nach Amerika bringen?«, stieß sie hervor.
Joost lächelte. »Wohin du willst, kleine Betje.«
2
Die Kühe auf der eingezäunten Weide, acht an der Zahl, gaben abwechselnd ein zufriedenes Muhen von sich. Betje, die auf das Holzgatter geklettert war, ließ munter die Beine baumeln.
Die Tage mit Joost schmeckten nach Sonne und Wind und manchmal auch nach Regen. Nach Speck und herzhaftem Käse, die Joost aus den Tiefen seiner Kiepe hervorzauberte. Die Brotkanten dazu waren meistens alt, aber gewürzt vom Abenteuer.
Aufregend war es, sich mit den Wolken über das Land treiben zu lassen. Nach Norden zogen sie, hatte Joost ein ums andere Mal versichert, zum Meer. Manchmal glaubte Betje, es schon zu riechen; salzig, hatte Joost gesagt. Wie der Granat, ein rosafarbenes Krebstierchen, das man dort aus dem Meer zog und kochte, ganze Bottiche voll, und Betje war das Wasser im Mund zusammengelaufen.
Es gab wohl nichts, wovon Joost auf seinen Wanderungen noch nicht gekostet hatte. Auf einer Viehweide war einmal ein Stier auf ihn losgegangen, angestachelt von Joosts leuchtend rotem Halstuch, und nur durch einen beherzten Sprung über den Zaun hatte er sich retten können. Eines Nachts, auf offenem Feld, hatte er mit bloßen Fäusten zwei Räuber in die Flucht geschlagen, die es auf seine Kiepe abgesehen hatten, und in einem Wald hätte ihn ein Jäger beinahe statt eines Hirschs erlegt, wäre Joost nicht flink genug gewesen.
Betje kannte nur die offenen Marschen ihres Kirchspiels, sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wohl tief in einem Wald war. Bei Joost klang es nach einem finsteren Ort, der einen zu verschlingen drohte. Ganz und gar unheimlich, und trotzdem rann ihr bei seinen Erzählungen ein wohliger Schauder über den Rücken.
Es war gut, dass sie nun zu zweit unterwegs waren, schloss Joost seine Geschichten, so konnte einer auf den anderen achtgeben. Ein ganzes Stück größer kam Betje sich vor, wenn er das sagte, wichtig und von Nutzen; bei Joost fühlte sie sich gut aufgehoben.
Dem Stand der Sonne nach zu schließen, saß sie schon einige Zeit hier. Seit Joost sich am Morgen zu der Ansammlung von Höfen aufgemacht hatte, deren Reetdächer Betje gerade noch in der Ferne erkennen konnte, zwischen dem weiten Grün von Wiesen und Weiden und dem wolkengetupften Himmel.
Joost ließ sie immer zurück, wenn ein Dorf oder ein Gehöft in Sicht kam, wo sich die Schätze aus seiner Kiepe an den Mann bringen ließen. Es machte Betje nichts aus, irgendwo in der Einöde auf ihn zu warten, froh darum, dass er ihr neugierige und im besten Fall mitleidige Blicke ersparte.
Du bist mein kleines Geheimnis , sagte er jedes Mal augenzwinkernd. Betje errötete dann verlegen; es klang, als wäre sie etwas Besonderes. Als ob Joost sie auf eine Weise sah, für die alle anderen blind waren.