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Heute jedoch blieb Joost lange fort, länger noch als sonst, während Betje den Flug der Feldlerchen verfolgte. Das Schlendern der wiederkäuenden Kühe auf ihrer Weide und wie die Schwarzdrosseln einen Wurm nach dem anderen aus dem Boden zerrten.

Als wollte sie sich versichern, dass Joost sie nicht vergessen hatte, strich sie über den aufgekrempelten Ärmel ihrer neuen Bluse. Der Ersatz für ihre alte, die nicht nur schmutzig gewesen war, sondern auch fadenscheinig, mit ausgebesserten Stellen, die sich schon wieder auflösten. Eine Frauenbluse war es, die Joost ihr geschenkt hatte. In die sie hineinwachsen konnte, wenn sie gut darauf aufpasste. Jetzt erst wusste sie, wie weiß ein Stoff wirklich sein konnte, und wie fein.

Ein hübsches Kleid hatte Joost ihr außerdem versprochen, nach dem nächsten dicken Geschäft. Vielleicht sogar ein Paar Schuhe, für Amerika. Wann immer Betje daran dachte, wurde ihr schwindelig vor Glück.

Jemand, der dafür sorgte, dass sie solche schönen Sachen bekam, würde sie bestimmt nicht einfach irgendwo zurücklassen.

Betjes Magen begann zu knurren. Ein hohles Gefühl, das zunehmend in Bangigkeit überging, je weiter die Sonne auf ihrer Bahn fortschritt. Irgendwo schrie kläglich ein Esel.

Was, wenn Joost tatsächlich nicht mehr kam? Was sollte dann aus ihr werden, ganz allein auf weiter Flur? Der Gedanke, dass Joost etwas zugestoßen war oder er es sich anders überlegt hatte, plagte Betje und schnürte ihr zunehmend die Brust zu

Die Sonne stand schon tief im Nachmittag, als schließlich eine Männergestalt aus den Wiesen auftauchte. Joosts Gestalt, und Betjes Herz machte einen Satz. Sie sprang vom Gatter hinunter und lief ihm entgegen.

»Hast du ein gutes Geschäft gemacht?«

Joost mochte es, wenn sie danach fragte, das hatte sie schnell gelernt.

Belustigt zwinkerte er ihr zu. »Was glaubst du wohl?«

Betje gab ein leises Glucksen von sich. Mit Joost schien alles so leicht, so unbekümmert. So vergnügt.

»Hast du mich vermisst?«, wollte er wissen.

Sie nickte eifrig, und er zerzauste ihre feuerroten Locken; das tat er gern.

»Dann ist gut.«

Er nahm die Hand nach vorn, die er bislang hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte.

»Ich hab dir auch was mitgebracht.«

Joost schlug die Zipfel des Tuchs zur Seite und enthüllte ein Stück Butterkuchen.

»Für mich?«

Betje blicke ungläubig auf den Kuchen. Zu Hause gab es Butterkuchen nur an Festtagen, und auch dann immer nur einen schmalen Streifen für jeden.

Joost nickte. »Ganz allein für dich.«

Ein Strahlen drängte sich auf Betjes Gesicht, und fast ehrfürchtig nahm sie den Kuchen entgegen.

Sie hatte noch nie etwas so Gutes gegessen, mit gekreuzten Beinen mitten in den Wiesen, unter offenem Himmel, der Geschmack von Butter und Zucker durchmischt von Sonne und Frühlingsluft. Noch wärmer in ihrem Bauch durch Joosts Lächeln und seinen freundlichen Blick, der auf ihr ruhte.

Joost hatte ein untrügliches Gespür, für die Nacht einen leeren Schuppen ausfindig zu machen, ein halb verfallenes Haus oder eine abgelegene Scheune.

Wie ein Fuchs sich seinen Bau sucht, dachte Betje schläfrig und rollte sich mit brennenden Füßen im Heu zusammen; ein tüchtiges Stück hatten sie heute zurückgelegt auf ihrem Weg zum Meer. Unter Knistern und Rascheln streckte sich Joost neben ihr aus.

Jeder dieser Schlafplätze roch anders. Nach Stroh und Korn und mulchig wie Kartoffeln, nach verwittertem Holz und altem Stein und Ruß. Einmal hatten sie sich in einen Stall geschlichen und im warmen Geruch der Pferde geschlafen; ein anderes Mal im Freien unter dem Sternenhimmel, und Joost hatte sie mit seiner Jacke zugedeckt.

Mit Joost über das Land zu ziehen war ein einziges großes Spiel. Viel besser als das Ringelreihen und Vater-Mutter-Kind der Mädchen zu Hause, weil dieses Spiel hier wirklich war.

Frei wie die Tiere im Wald sind wir , hatte Joost einmal gesagt. Wir besitzen nicht mehr als das, was wir am Leib tragen, und trotzdem sind wir reicher als alle anderen. Denn uns gehört die ganze Welt.

Betje fuhr zusammen, als sich sein Arm um sie legte. Er gab einen beruhigenden Laut von sich, wie das Schnurren eines großen Katers, doch umso mehr versteifte sie sich.

»Kennst du das denn nicht«, flüsterte Joost, »dass dich jemand in den Arm nimmt, weil er dich gernhat?«

Betje schüttelte den Kopf.

»Arme kleine Betje«, murmelte er sanft.

In ihren Augenwinkeln prickelte es, als wollte sie gleich weinen.

»Magst du mir nicht ein Küsschen für die Nacht geben?«, fragte Joost. »Schau, so.«

Sein Mund berührte ihre Wange, und Betje duckte sich unter ihm weg. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Tante und Onkel das je bei ihren Kindern gemacht hätten.

Sie spürte Joosts Blick auf sich, schwer wie sein Arm.

»Ich hatte auch einmal ein kleines Mädchen, weißt du«, fuhr er nach einer Weile fort, seine Stimme wie aufgeschürft.

Betje blinzelte in das rauchblaue Dämmerlicht, das durch die Ritzen und Fugen der Holzlatten sickerte.

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie lebt nicht mehr.«

Erschrocken sah Betje ihn an. In Joosts Augen schimmerte es feucht; Tränen, gegen die er tapfer anzukämpfen schien. Betje war elend zumute. Schuldig fühlte sie sich, weil sie noch auf der Welt herumsprang, während Joosts kleines Mädchen, das bestimmt zwei gesunde Arme gehabt hatte, nicht mehr da war.

Betje überwand sich und streifte flüchtig mit dem Mund über seine Wange, stoppelig und rau.

Joost lächelte und streichelte ihr über den Kopf. »Siehst du. Ist doch nichts dabei.«

Er zog sie an sich und gab ihr noch einen Kuss auf das Ohr.

»Ist das nicht ein Glück, dass wir jetzt füreinander da sind? Wo wir doch sonst niemanden haben?«

Betje nickte zögerlich und kauerte sich enger zusammen.

Merkwürdig fühlte es sich an, in Joosts Arm zu liegen. In seiner Wärme, seinem strengen Männergeruch, der den süßen Duft des Heus überlagerte.

Bestimmt fühlt es sich nur merkwürdig an, weil ich es nicht kenne, redete Betje sich selbst gut zu und presste die Augen zusammen. Ich werde mich schon daran gewöhnen.

Betje schrak hoch. Die Finsternis in der Scheune war kaum von der Schwärze des Schlafs zu unterscheiden, im ersten Augenblick wusste sie nicht, ob sie nicht in einem Traum gefangen war.

Joost bewegte sich unruhig im Heu, es klang, als ob er unter Schmerzen litt.

»Joost?«

Er antwortete nicht, keuchte nur, und Betje tastete in der Dunkelheit nach ihm. Wie im Fieber lag er da, angespannt und ein Zucken unter der Haut. Besorgt rüttelte sie an ihm.

»Joost! Sag doch was!«

»Gleich vorbei«, brachte er mühsam hervor.

Die Angst, Joost könnte hier in der Scheune sterben, noch bevor es Tag wurde, fraß sich in sie hinein.

»Was kann ich tun?«

»Das darf ich nicht von dir verlangen, kleine Betje«, rang er sich ab, hörbar gequält.

Betje war den Tränen nahe. »Doch, Joost. Alles! Wenn es dir nur hilft.«

Eine Weile atmete er schwer, wie gegen einen Widerstand. Dann tastete er nach ihrer Rechten und führte sie dorthin, wo seine Haut glühte. Zu etwas, das unter ihrer Berührung zuckte und bebte, dick und hart wie eine Wurst.

Middelbeen. Piethahn. Trummelstock.

Die Begriffe, die Betje dafür aufgeschnappt hatte, jagten ihr durch den Kopf. Es konnte nicht recht sein, ihn dort anzufassen.

»So, Betje. Genau so.«

Erst sein erleichtertes Seufzen lockerte ihre verkrampften Finger; was wusste sie denn schon, von welchen Leiden ein Mann heimgesucht werden konnte. Folgsam streichelte sie ihn dort, wie er sie geheißen hatte, wie das Fell einer Katze.

»Gib mir noch mal ein Küsschen. Hier unten.«

Er packte sie im Genick und drückte ihren Kopf hinunter. Umso fester, je heftiger sie sich sträubte.

»Du wolltest doch alles für mich tun«, erinnerte er sie liebevoll.

Er roch schlecht dort unten. Eklig fühlte es sich an ihrer Wange, ihrem Mund an, und er tat ihr weh. Sie bettelte darum, dass er sie losließ und alles wieder so schön war wie zuvor, und brachte dabei keinen Laut heraus. Sauer quoll es in ihrer Kehle hoch und ließ sie würgen.