Dann hatte Fred Peters den Tischlerhobel zur Seite gelegt und den Tornister und die Feldflasche hervorgekramt, mit denen er als junger Mann in den Krieg gezogen war, gegen Napoleon. Sein vernarbtes Gesicht hatte gezuckt, als er Hanno einen kräftigen Klaps auf den Rücken gab. Du maakst dien Weg .
Wenige Tage später war Hanno losmarschiert, in der Hosentasche die Handvoll Stüver vom Verkauf der wenigen Habseligkeiten, die seine Mutter ihm hinterlassen hatte.
Seither kam er gut voran, mit leichtem Herzen und Schwung in den Beinen, manchmal sogar schon wieder einem Lachen auf dem Gesicht.
Seine Schritte wurden langsamer. Am Rand seines Gesichtsfelds leuchtete etwas Rotfelliges im Gras, vielleicht ein Fuchs auf der Pirsch. Hanno mochte Füchse, auch wenn sie zu scheu waren, als dass er je einen aus der Nähe gesehen hatte. Geduckt schlich er sich an und musste dann enttäuscht feststellen, dass es nur der wilde Schopf eines Mädchens war, das zusammengerollt in der Wiese lag.
Ihr Gesicht war über und über gesprenkelt wie der Pelz einer Hummel mit Blütenstaub, ein Grübchen im Kinn wie ein Fingerabdruck im Teig. Hanno schmunzelte, dann runzelte er die Stirn. Weit und breit waren kein Hof und kein Dorf in Sicht. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum ein Mädchen am frühen Morgen hier im Gras schlief, mitten im Nirgendwo.
Erst auf den zweiten Blick bemerkte er den angestrengten Ausdruck auf ihrem Gesicht, selbst im Schlaf. Die tiefen Schatten neben der Nasenwurzel und die dicken geröteten Lider. Als hätte sie die Nacht hindurch geweint.
Man dürfe nie an jemandem in Not vorbeigehen, hatte seine Mutter ihm beigebracht. Unsicher, was er tun konnte, ging Hanno vor dem Mädchen in die Knie.
Ihre Lider klappten auf. Grellblau blitzte es ihm entgegen, dann krachte ihre Faust in sein Gesicht, und Hanno landete unsanft auf dem Hinterteil.
»He!«, rief er dem Mädchen nach, das durch die Wiesen stolperte und dabei Haken schlug wie ein Feldhase.
Eher verdutzt als verärgert rieb er sich das schmerzende Jochbein, für ein Mädchen hatte sie eine harte Hand. Von einem Augenblick auf den anderen verschwand sie aus seinem Blickfeld, als hätte das Marschland sie verschluckt. Besorgt sprang Hanno auf und setzte ihr nach.
Ihr rot loderndes Haar war zwischen den Grashalmen nicht schwer auszumachen. Unbeholfen und wie aus dem Lot geraten wirkte sie, während sie sich abmühte, nach dem Sturz wieder auf die Füße zu kommen. Hanno musste an die Henne denken, die mit gebrochenem Flügel auf dem Hof umhergehüpft war, bis sich die Bäuerin erbarmt und ihr den Hals umgedreht hatte.
Mit helfend ausgestreckter Hand bückte er sich zu ihr hinab.
»Hast du dir wehgetan?«
Dieses Mal war er vorbereitet und wich ihrem Tritt aus.
Dabei schien sie nicht bösartig, nur verängstigt. Wie der räudige Hund damals, der mit steifem Hinterbein auf dem Weg zur Dorfschule hinter Hanno her gehumpelt war, aber grollend und geifernd nach ihm schnappte, sobald Hanno sich auf ihn zubewegte. Hanno war geduldig geblieben, einen Schultag nach dem anderen, mit gutem Zureden und Happen seines Pausenbrots. Schließlich hatte er sogar das struppige Fell kraulen dürfen, und die Art, wie der Hund mit der Zunge über seine Hand fuhr, war das schönste Gefühl der Welt gewesen. Hanno hatte versprochen, ganz allein für ihn zu sorgen und ihm Benimm beizubringen, doch der Bauer hatte den Hund nicht auf seinem Land haben wollen und ihn davongejagt. Nie war Hanno sich ohnmächtiger vorgekommen, untröstlich und voller Zorn. Vermutlich war da zum ersten Mal der Gedanke in ihm aufgekeimt, dass er nicht als Knecht auf diesem Hof alt werden wollte.
Hanno zog sich ein paar Schritte zurück. Das Mädchen wirkte erschöpft, immer wieder lief ein Zittern durch ihre Beine, die ihr offenbar nicht mehr gehorchen wollten. Langsam ließ er sich im Gras nieder und schlüpfte aus den Gurten des Tornisters.
»Hast du Hunger?«
Die Welt sah doch immer freundlicher aus, wenn man etwas im Magen hatte.
Ihre Augen verengten sich geradezu feindselig, als er ihr ein belegtes Brot entgegenstreckte.
»Ist schon in Ordnung«, versicherte er mit einem aufmunternden Nicken. »Ich hab genug dabei.«
So gierig krallte sie sich seine Wegzehrung, dass sie dabei Kratzspuren auf seinem Handballen hinterließ. Hanno wollte sie nicht anstarren, während sie das Brot in sich hineinschlang, und musste dennoch zu ihr hinsehen.
Mädchen hatten sonst doch immer Zöpfe. Außer Tinne vom Kroonshof, die hatte kurze Haare, damit man schon von Weitem sah, dass sie nicht ganz richtig im Kopf war. Das rothaarige Mädchen hatte jedoch nicht Tinnes verhangene Augen. Die Blicke, die Hanno streiften, waren wach und geradezu scharf. Dieses Mädchen schien auf eine andere Art verloren zu sein.
»Hast du dich verlaufen?«
In einer beschämten Geste wischte sie sich die Krümel vom Mund und nickte.
»Wo musst du denn hin?«
»Nach Updorp. Oder Niendorp.« Auch ihre Stimme war klar, sogar unter dem weichen Zungenschlag des Nordens.
Hanno durchforstete sein Gedächtnis und schüttelte schließlich den Kopf.
»Nie gehört. Ich bin aus dem Moormerland. Sagt dir das irgendwas?«
Jetzt war sie es, die den Kopf schüttelte und ihn dann hängen ließ.
Hanno war ratlos. Ohne auch nur eine Ahnung, wo ungefähr diese beiden Dörfer liegen mochten, konnte das Mädchen ewig danach suchen. Sein Blick fing sich an einem Bussard, der über ihnen wachsam seine Kreise zog.
Ein Vogel müsste man sein, dachte Hanno. Von da oben hat man das ganze Land im Blick und entdeckt jede Maus, jeden Sperling am Boden. Ein anderes Paar Augen bräuchten wir. Einen anderen Blickwinkel. Als würden wir vor der Landkarte im Schulhaus stehen und die ganze Welt betrachten.
»Ich bin nach Osten unterwegs«, erklärte er. »Nach Hamburg.«
Der Kopf des Mädchens fuhr hoch, ihre klaren blauen Augen sahen ihn aufmerksam an.
»Du kannst doch mitkommen. Vielleicht finden wir unterwegs jemanden, der dein Dorf kennt oder sogar dorthin will und dich mitnimmt. Oder wir suchen jemanden, der eine Karte besitzt, auf der es eingezeichnet ist.«
Da war es wieder, dieses Misstrauen in ihren Augen. Hanno ließ sich davon jedoch nicht beirren und nahm einen großen Schluck aus der Feldflasche, bevor er sie dem Mädchen hinhielt.
»Ich bin übrigens Hanno.«
Betje zögerte und trank dann in langen Zügen aus der Flasche, während sie aus dem Augenwinkel diesen fremden Jungen musterte.
Nett sah er aus. Einen verschmitzten Zug um den Mund, gab ihm die an der Spitze himmelwärts gerichtete Nase etwas Vorwitziges. Unter der Kappe lugten Haare in der Farbe von Spelzen und Henkelohren hervor, und seine Augen erinnerten an Regenpfützen, in denen sich der Himmel spiegelte.
Aber was besagte das schon. Joost hatte auch freundlich und gutherzig gewirkt, und Clas saß immer mit brav gescheiteltem Haar und andächtigem Ausdruck in der Kirchenbank, als könnte er kein Wässerchen trüben.
»Und, kommst du mit?«, fragte Hanno, als er die Feldflasche wieder verstöpselte und sich umhängte.
Geduldig wartete er auf ihre Antwort. Bis er begriff, dass er keine bekommen würde, noch nicht einmal ein Zeichen, nicht heute und auch nicht morgen. Es widerstrebte ihm, das Mädchen allein zurückzulassen, aber ihm fiel nichts mehr ein, was er noch für sie tun konnte.
Er stand auf und schulterte den Tornister, in der Hand einen der Äpfel vom letzten Sommer. Fast widerwillig nahm das Mädchen ihn entgegen.
»Ich wünsch dir viel Glück.«
Betje sah ihm nach, als er davonging. Genau so, wie Joost davongegangen war, seine warmen Worte und fürsorglichen Gesten eine Falle, in die sie arglos getappt war.
Ihre Finger schlossen sich um den runzligen Apfel. Wie konnte man wissen, ob ein solch alter Apfel noch gut war? Ob die glänzende und süß duftende Frucht, frisch vom Baum gepflückt, nicht innen faulte?
Betjes Blick streifte über das Marschland, in dessen offener Leere selbst ein großer Junge wie Hanno verschwindend klein geriet und mit jedem seiner kräftigen Stiefelschritte weiter zusammenschnurrte.