Tagelang könnte sie hier noch umherirren, ohne je den Weg nach Hause zu finden. Ohne dass sie irgendwo einen Brotkanten erbetteln konnte oder einen Zipfel Wurst.
Ihre Augen richteten sich wieder auf Hanno, der schon so erwachsen wirkte. Zielstrebig bewegte er sich über die Wiese, zur Straße hin.
Er kannte seinen Weg. Den Weg nach Hamburg. Und von Hamburg aus fuhren die Schiffe nach Amerika, das wusste sie.
Betje rappelte sich vom Boden auf.
Wenn man sonst nichts mehr hatte, biss man eben in den Apfel, der da war.
5
Hanno wurde nicht schlau aus dem fremden Mädchen, das wortlos mal hinter, mal neben ihm über die Wiesen stapfte, auf denen die Reiher standen wie aus dem Winter übrig gebliebene Eiszapfen. Immer hielt es sich in gehörigem Abstand zu ihm, sosehr er seine Schritte auch anzupassen versuchte. Als ob es darauf beharrte, nichts mit ihm zu schaffen zu haben.
Nur dass ihr Name Betje war, das hatte er ihr irgendwann aus der Nase ziehen können, bevor sie sich wieder in ihrem Schweigen verkroch. Ob verdrossen oder gedankenvoll, abweisend oder nur befangen, war schwer zu sagen für Hanno.
Normalerweise plapperten Mädchen doch in einem fort. Die ganz Kleinen ebenso wie die, bei denen sich schon Knöpfchen durch den Blusenstoff drückten und die von Hanno wissen wollten, welche von ihnen die Hübscheste war und ob er ein Herzblatt hatte. Hanno schoss dann jedes Mal das Blut ins Gesicht. Besonders seit Mantje vom Noordhof hinter dem Holunderbusch ihren Mund auf seinen gedrückt hatte. Ein ganz merkwürdiges Gefühl war das gewesen, im Kopf wie im Bauch, zumal Mantje gleich darauf kichernd davongestoben war und danach keinen Blick mehr für ihn übrig gehabt hatte.
Selbst die Schüchternen unter den Mädchen hatten irgendwann Zutrauen zu Hanno gefasst und ihn gefragt, wo das Salz herkam oder warum Küken so flaumig waren wie Pusteblumen, aber nicht fliegen konnten. Und woher Hanno all das wusste. Da hatte er immer nur mit den Schultern gezuckt, er wusste es einfach.
Das rothaarige Mädchen jedoch nahm gleichgültig hin, was er von den Milanen erzählte, die er bei ihrer Jagd auf Karnickel und sogar Krähen beobachtet hatte, und von dem Lämmchen, das er einmal von Hand aufgezogen hatte. Erst als er nicht ohne Stolz berichtete, dass seine große Schwester in Hamburg in Diensten stand, in einem feinen Haushalt, wo es auch für ihn gute Arbeit geben würde, glomm etwas in ihren Augen auf.
Betje warf einen Seitenblick auf Hanno, der schwungvoll und mit heiterer Miene vorwärtsmarschierte. Nicht selbstherrlich, als würde die Welt ganz selbstverständlich ihm gehören, sondern mit einer freundlichen Gelassenheit. Als wäre ihm alles willkommen, was seinen Weg kreuzte.
Zaghaft überwand sie ihre Vorsicht, die Neugierde war stärker.
»Und deine Eltern … Haben die dich einfach so ziehen lassen?«
Ein wohliges Weh, an dem Betje rütteln musste wie an einem losen Milchzahn.
Hanno schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter.
»Meine Mutter ist gerade gestorben.«
Der Zweifel, der sich in ihr Gesicht prägte, ärgerte ihn. Als ob sich irgendjemand so etwas ausdenken würde.
»Ein bösartiges Gewächs hatte sie im Leib«, warf er ihr angriffslustig zu und lauter als nötig. »War nicht schön, das mit anzusehen.«
Betje schlug die Augen nieder, und auch Hanno wandte den Kopf ab. Seine Wut war so schnell verraucht, wie sie aufgeflammt war, sie hatte auch gar nicht so sehr diesem Mädchen gegolten.
Niemand war warmherziger gewesen als seine Mutter. Immer fröhlich, so hart der Bauer und die Bäuerin sie auch schuften ließen, immer ein Lied auf den Lippen, ein liebes Wort für jeden, bis fast zu ihrer letzten Stunde.
Bi de Reintje is weer wat unnerwegens , hatten die Leute über ihren anschwellenden Bauch getuschelt. Se let even nix anbrannen. Oft hatten sie sich die Mäuler über Reintje zerrissen, weil unter ihrer Haube die bunten Bänder hervorblitzten, die sie sich ins weizenhelle Haar flocht. Weil sie ihre funkelnden Augen nie demütig senkte, wie es sich für eine Magd gehörte, sofort lostanzte, wenn irgendwo aufgespielt wurde, und die Tändeleien der Burschen und Männer genoss. ’N Fliertje , da waren sich alle kopfschüttelnd einig. Aber tüchtig war sie, das musste man ihr lassen, rackerte fast für zwei. Bauer Dierksen hatte mit seiner Magd einen guten Griff getan.
Die bösen Zungen waren erst verstummt, als sich ihr Gesicht aschgrau verfärbte und zu schrumpfen begann. Sobald das Gewicht eines einzigen Melkeimers sie aus der Puste brachte, die zuvor robusten Arme nur mehr Stöckchen; ab da war es ganz schnell gegangen.
Warum hat der Herrgott sie schon zu sich geholt? , hatte Hanno den Pastor gefragt. Der Pastor hatte nur scharf die Luft eingesogen und Hanno flüchtig die Hand geschüttelt, bevor er mit wehendem Talar zum nächsten Begräbnis geeilt war.
»Und dein Vater?«
Anstatt nach Worten des Bedauerns zu suchen, wie es vermutlich jeder andere getan hätte, bohrte Betje weiter nach. Sie war wirklich ein seltsames Mädchen.
»Gibt keinen.«
Hanno wusste nicht einmal, ob er denselben Vater hatte wie Frauke, die sich an ihren nur noch dunkel erinnerte, obwohl sie fast sechs Jahre älter war als er.
Die paar Male, die er seine Mutter nach seinem Vater gelöchert hatte, hatte sie ihn nur kräftig in die Arme geschlossen, sein Jungengesicht mit Küssen bedeckt und gesagt, er und Frauke seien die größten Geschenke, die sie je in ihrem Leben bekommen habe. Wie hätte er da auch bockig bleiben können, und irgendwann war es ihm egal geworden. Wer brauchte schon einen Vater, wenn er eine solche Mutter hatte, das hatte er oft gedacht, so stark und doch so weich, hübsch und lustig und lieb.
Verstohlen wischte sich Hanno über die Augen und spähte dann zu Betje.
Ihre brandroten Haare faszinierten ihn. In Kringeln und Schnörkeln züngelten sie im Wind, als führten sie ein eigenes Leben. Obwohl Hanno wusste, dass Haare einfach Haare waren und niemand etwas dafür konnte, fragte er sich trotzdem, ob es in ihrem Kopf genauso lebhaft zuging. Was auch an der grüblerischen Falte liegen mochte, die zwischen ihren Brauen aufgetaucht war, oder an ihren Augen, von demselben durchdringenden Blau wie der Kern einer Kerzenflamme.
Mit ihrem Arm stimmte was nicht, das hatte er schnell entdeckt. Verkümmert baumelte er von der Schulter herab, die höher stand als die andere, irgendwie verdreht aussah, sogar noch unter der viel zu großen Bluse. Einmal war ein Puppenspieler ins Dorf gekommen, und die Figuren des Hanswurst und seiner Gretje hatten genauso umherschlenkernde Arme gehabt.
Wenn dieses rothaarige Mädchen sich herausnahm, ihm ein Loch in den Bauch zu fragen, stand ihm das genauso zu, befand Hanno.
»Was ist mit deinem Arm?«
»Siehst du doch.«
»Ich meine, wie ist das passiert? Hast du ihn dir einmal gebrochen?«
»Der war schon immer so.«
Darüber sann Hanno eine Weile nach. Eines der Schafe auf dem Hof hatte letzte Ostern ein Lamm mit abgeknickten Vorderbeinen geworfen. Und einmal war ein Kälbchen falsch herum gelegen und bei der Geburt stecken geblieben. Der Bauer und sein Großknecht hatten sich zwar aus Leibeskräften bemüht, es heil auf die Welt zu holen, gelahmt hatte es hinterher trotzdem. Beim Lammen und Kalben konnte eine Menge schiefgehen, vermutlich war das bei Menschen nicht anders.
»Tut das weh?«
Unter zusammengezogenen Brauen starrte Betje ihn an, gewappnet für die Gemeinheit, die sicher gleich folgen würde. Doch in Hannos Augen stand keine Häme, noch nicht einmal ein Anflug von Spott. Offen war sein Blick.
Sie schüttelte den Kopf. »Der ist wie taub.«
Niemand hatte sie je gefragt, wie es mit einem solchen Arm war. Was Betje fühlte oder wie es ihr ging. Sie musste erst eine Sprache dafür finden.